Zum Inhalt springen

Legitimation des Ausnahmezustands (Krisenpolitik… Kap. 5)

Krisen und der ggf. explizit ausgerufene politische Ausnahmezustand entziehen sich per se einer genauen Definition und rechtlichen Regelung oder Kontrolle. „Not kennt kein Gebot“, weiß der Volksmund, so dass im Ausnahmezustand zwangsläufig Verfassungen und andere grundlegenden Regelungen mehr oder weniger selbstverständlich missachtet oder außer Kraft gesetzt werden können, sofern es die tatsächliche oder wahrgenommene Notwendigkeit, die Existenz des Ganzen, Staat und Ordnung zu sichern, nahelegen. Carl Schmitt hat den berühmtem Satz geprägt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“1. Dieses bringt die Tendenz zur Diktatur im Ausnahmezustand auf den Punkt (von Schmitt allerdings positiv gedeutet, weil gegen den von ihm kritisierten liberalen, demokratischen Staat gerichtet). Dabei muten Krisen und der dadurch ausgelöste politische Ausnahmezustand grundsätzlich ebenso unübersichtlich wie auch paradox an, wenn die in der Krise entfesselten, oft willkürlich handelnden Sicherheitsapparate Freiheit und Recht einschränken oder außer Kraft setzen, um dieses zu schützen.

Grundsätzlich sind Krisensituationen die Stunde der Exekutive, auf die sich die politische Macht fokussiert, so dass eine Gelegenheit für besonders Tatkräftige entsteht, gerade indem Gesetze oder die Verfassung außer Acht bleiben, weil dieses die gewünschte Stärke, Entschlossenheit und Tatkraft der Regierenden unterstreicht.2 Politisch bleibt in Krisen scheinbar nicht die Zeit für ausführliche, kontroverse Erörterungen und den Ausgleich von Interessen. Vielmehr soll rasch und entschlossen gehandelt werden, auch wenn hinterher oft deutlich wird, dass Krisen propagandistisch oder strategisch konstruiert und genutzt wurden — wie z.B. von US-Präsident Bush nach ‚9/11‘. Die Gelegenheit, Krisengewinne zu erzielen, gilt aber auch für beobachtende Akteure in Medien und Wissenschaft, die ebenso von Krisen profitieren und aufsteigen können. Die Regierung soll in Krisen jedenfalls straff und effizient durch oder aus der Krise führen, d.h. der parlamentarische, oft ohnehin als kleinlich, egoistisch und mühselig sowie langwierig abgewertete „Parteienstreit“ (der scheinbar nicht das „Große Ganze“ im Blick hat), soll ruhen. Alle sollen in Krisen an einem Strang ziehen, um die Bedrohung gemeinsam zu überwinden. In Krisen und im Krieg werden Einigkeit, Zusammenhalt, Gehorsam und Tatkraft im Sinne der Führung erwartet, um den Feind rasch zu besiegen. Nicht zuletzt ist deshalb auch eine rigide Einteilung in Freund oder Feind typisch für Krisen und Ausnahmezustände, wobei die Feinde in der Regel von außen kommen oder als nicht zur Gesellschaft zugehörig betrachtet und ausgeschlossen werden, wie insbesondere Terroristen.

Förster/Lemke fassen aufgrund einer historischen Analyse von Fallbeispielen von Ausnahmezuständen in den USA die folgenden typischen Legitimationsmuster zusammen:3

  1. Äußerlichkeit,
  2. Freund-Feind-Denken,
  3. Effizienz und
  4. Notwendigkeit.

Aufgrund der skizzierten Logik wird verständlich, warum die seit 2020 von der Regierung ausgegebene Doktrin zur Begründung des Ausnahmezustands öffentlich kaum in Frage gestellt wurde und Kritikerinnen oder Kritiker der Anti-Corona-Maßnahmen reflexartig marginalisiert und diffamiert wurden. Dieses gilt, obwohl durchaus prominent ausgewiesene wissenschaftliche Experten die Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Wirkung von Maßnahmen bezweifelten, schon bald eine nur moderate, sich auf sehr hohe Altersgruppen fokussierende, Sterblichkeit von Covid-19 deutlich wurde und die Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen im Blick auf ähnlich verlaufende epidemiologische Kurven in anderen Ländern (bei unterschiedlicher Strenge der Maßnahmen) zweifelhaft schien.4

Mit Krisenwahrnehmungen und im Ausnahmezustand wächst bei den Bürgerinnen und Bürgern intuitiv die Bereitschaft, wie auch immer geartete staatliche Sicherheitsapparate auszubauen oder diesen immer mehr Rechte einzuräumen, d.h. Freiheitsrechte nicht nur temporär zu opfern.5 So bejahte z.B. im Jan. 2002 in den USA fast die Hälfte der Befragten (47%), dass die Regierung alle notwendigen Schritte unternehmen sollte, um terroristische Anschläge zu verhindern, selbst wenn dadurch die Grund- und Freiheitsrechte verletzt würden; zudem unterstützten im Jahr 2005 über 65% der Befragten die gezielte Ermordung von Terroristen.6

Mit der Verbreitung von Angst und Krisenwahrnehmungen entsteht eine nationale Sammlung („Rally round the flag“) und enorme Bereitschaft zur Unterstützung der Regierung, gepaart mit feindseligen Aufwallungen gegen äußere wie innere Feinde.7 Entsprechend war in der Corona-Krise die Unterstützung des Ausnahmezustands und der amtierenden Regierungen in der Bevölkerung groß, trotz der weitgehenden Einschränkung von Grundrechten, sowohl in den USA8 wie in Deutschland: Hierzulande hielten laut Umfragen im Januar 2021 über die Hälfte (53%) der Antwortenden die verhängten Maßnahmen für angemessen, 30% gingen diese sogar nicht weit genug.9 Dazu war in der ‚Corona-Krise‘ eine wachsende Unterstützung der Kanzlerin und der regierenden CDU/CSU zu sehen (weniger der SPD als Juniorpartner). Vor allem die Popularität des besonders streng auftretenden Bayerischen Ministerpräsidenten Söder (CSU) zeigte ungeahnte Höhenflüge (Infratest-Dimap a.a.O.). Ähnlich zeigen Analysen zu den französischen Kommunalwahlen und der je nach Region unterschiedlichen Lockdown-Politik eine große Unterstützung von Amtsinhaberinnen in der Krise und dass mahnende und hart auftretende Politikerinnen populär waren; zudem steigt die Wahlbeteiligung mit der Härte des Lockdowns.10

Den Effekten nationaler Sammlung in Krisen können sich auch Medien nicht entziehen, zumal enge Netzwerke von Eliten aus Medien und Politik existieren, die oft auffällig ähnliche Ansichten teilen, insbesondere, wenn es um die großen Fragen von Krieg und Frieden sowie Freund und Feind geht.11. Im Übrigen setzen auch Regierungen ihrerseits gerade in Krisen mediale Strategien ein, um Themensetzung und Interpretationen zu beeinflussen, bis hin zu Inszenierungen12 So sieht ein durchgesickertes Strategiepapier zu Covid-19 aus dem deutschen Innenministerium die gezielte Förderung von Angst zur Durchsetzung harter politischer Maßnahmen nahe, wobei aber unklar bleibt, wie relevant dieses Papier für das politische Handeln war.13

Dessen ungeachtet erscheint die Akzeptanz der Freiheitseinschränkungen und die Folgebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in der Covid-19-Krise frappierend, angesichts des monatelangen ‚Lockdowns‘ und vielfacher „Kollateralschäden“ (gesundheitlich, wirtschaftlich, sozial), die noch gar nicht genau abzuschätzen sind.14 Zusammenfassend und pointiert sieht Wolfgang Merkel in der Covid-19-Krise deshalb eine Tendenz zur Rückkehr eines antidemokratischen, autoritären Untertanengeists unter dem „Signum des Vernünftigen“, d.h. eine Art autoritäre Technokratie:

„In der Covid-19-Krise erlebten wir die Wiedergeburt des Untertanengeistes unter dem Signum des Vernünftigen. Sichtbar wurde ein demokratisches Paradoxon: Je tiefer die Eingriffe in die Grundrechte der Bürger, desto größer war die Zustimmung derjenigen, denen die Grundrechte entzogen wurden. … Die vermeintliche physische Sicherheit war den Bürgern wichtiger als individuelle Freiheit.“

15
Weiter zu: Tendenz zur autoritären Technokratie? (Krisenpolitik… Kap. 6)
Fazit und Ausblick (Krisenpolitik… Kap. 7)
Zurück zu Krisenpolitik… Kap. 1 (Einleitung/Übersicht)
Was ist eine ‚Krise‘ und woher kommen wachsende Krisenwahrnehmungen? (Krisenpolitik … Kap. 2)
Medien und die Konstruktion von Angst sowie ‚Krisen‘ (Krisenpolitik… Kap. 3)
Der kapitalistische ‚Wohlfahrtsstaat‘ als Krisenmanager (Krisenpolitik… Kap. 4)
  1. Schmitt, Carl. 2009. Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. 9. Auflage. Berlin: Duncker & Humblot, S. 13.[]
  2. So begründete sich z.B. ein Großteil des späteren Prestiges oder Mythos des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt auf sein entschiedenes Agieren als Innensenator in der Hamburger Sturmflut 1962, gerade weil er Recht und Verfassung ignorierte.[]
  3. Förster, Annette, und Matthias Lemke. 2016. „Die Legitimation von Ausnahmezuständen. Eine Analyse zeitübergreifender Legitimationsmuster am Beispiel der USA“. In Legitimitätspraxis: Politikwissenschaftliche und soziologische Perspektiven, hrsg. Matthias Lemke, Oliver Schwarz, Toralf Stark, und Kristina Weissenbach. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 13–37. doi:10.1007/978-3-658-05742-8_2.[]
  4. Vgl. neben der o.g. Metastudie zur Letalität von Ioannidis et al. als Überblick: Sönnichsen, Andreas. 2020. „COVID-19: Wo ist die Evidenz?“ EbM-Netzwerk. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19 (20. Dezember 2020);
    Alshammari, Thamir M, Khalidah Alenzi, Fatemah Alnofal, Ghada Fradees, und Ali Altebainawi. 2021. „Are countries precautionary actions against COVID-19 effective? An assessment study of 175 countries worldwide“. Saudi Pharmaceutical Journal 29(5): 391–409. doi:10.1016/j.jsps.2021.03.011; Meunier, Thomas. 2020. „Full lockdown policies in Western Europe countries have no evident impacts on the COVID-19 epidemic“. medRxiv: 2020.04.24.20078717. doi:10.1101/2020.04.24.20078717; Bendavid, Eran, Christopher Oh, Jay Bhattacharya, und John P. A. Ioannidis. 2021. „Assessing Mandatory Stay-at-Home and Business Closure Effects on the Spread of COVID-19“. European Journal of Clinical Investigation. doi:https://doi.org/10.1111/eci.13484.[]
  5. Vgl. Hirsch, Joachim. 2020. „Sicherheitsstaat 4.0“. In Lockdown 2020, hrsg. Hannes Hofbauer und Stefan Kraft. Wien: Promedia Verlag, 167-181 (Ebook); Hirsch, Joachim. 1980. Der Sicherheitsstaat: Das Modell Deutschland, seine Krise und die neuen sozialen Bewegungen. Frankfurt M.: Europäische Verlagsanstalt. https://www.zvab.com/buch-suchen/titel/der-sicherheitsstaat/autor/joachim-hirsch/ (27. Februar 2021); Simon, Dirk. 2009. Präzeptoraler Sicherheitsstaat und Risikovorsorge. Peter Lang. Dieses wird durch eine Auswertung der Häufigkeit des Vorkommens der Begriffe Risiko und Sicherheit im Vergleich zu Freiheit unterstrichen (Auswertung von Häufigkeiten der Begriffe in Google-Books via google.com/ngrams, auf Deutsch wie Englisch).[]
  6. Vgl. https://news.gallup.com/poll/4909/terrorism-united-states.aspx.[]
  7. Vgl. Feinstein, Yuval. 2020. „Applying Sociological Theories of Emotions to the Study of Mass Politics: The Rally-Round-the-Flag Phenomenon in the United States as a Test Case“. The Sociological Quarterly 61(3): 422–47. doi:10.1080/00380253.2019.1711255.[]
  8. vgl. https://www.cdc.gov/mmwr/volumes/69/wr/mm6924e1.htm[]
  9. Vgl. https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2021/januar/[]
  10. Im Übrigen profitierten auch die Grünen, die in der Regel zu den schärfsten Lockdown-Unterstützenden gehören; vgl. Giommoni, Tommaso, und Gabriel Loumeau. 2020. Lockdown and Voting Behaviour: A Natural Experiment on Postponed Elections during the COVID-19 Pandemic. Rochester, NY: Social Science Research Network. SSRN Scholarly Paper. doi:10.2139/ssrn.3659856; ähnliche Befunde werden aus Dänemark berichtet, während die Abwahl des US-Präsidenten Trump in der Krise wohl auch eine Folge seiner inkonsistenten Linie war; vgl. Baekgaard, Martin, Julian Christensen, Jonas Krogh Madsen, und Kim Sass Mikkelsen. 2020. „Rallying around the Flag in Times of COVID-19: Societal Lockdown and Trust in Democratic Institutions“. Journal of Behavioral Public Administration 3(2): 1–12. doi:10.30636/jbpa.32.172; Hart, Joshua. 2021. „Did the COVID-19 Pandemic Help or Hurt Donald Trump’s Political Fortunes?“ PLOS ONE 16(2): e0247664. doi:10.1371/journal.pone.0247664.[]
  11. Vgl. Krüger, Uwe. 2015. „Manufacturing consent through integration: Social networks of German journalists in the elite milieu and their effects on coverage“. European Journal of Communication 30(2): 152–70; vgl. auch den Klöckner bei telepolis am 22.10.2019[]
  12. Beispielhaft war der Auftritt von Ex-US-Außenminister Colin Powell vor der UN im Februar 2003, um mithilfe manipulierter Dokumente über vermeintliche Massenvernichtungswaffen im Irak einen Einmarsch zu legitimieren. Diese Lügengeschichte wurde weltweit verbreitet und lange geglaubt (vgl. die selbstkritische Betrachtung im Tagesspiegel, 14.6.2019).[]
  13. Vgl. Hofbauer, Hannes, und Stefan Kraft, hrsg. 2020. Lockdown 2020. Wien: Promedia Verlag, Vorwort, Fußnote 1.[]
  14. Vgl. Ioannidis, John P. A. 2020. „Global Perspective of COVID-19 Epidemiology for a Full-Cycle Pandemic“. European Journal of Clinical Investigation 50(12): e13423. doi:https://doi.org/10.1111/eci.13423; https://www.corona-in-der-schweiz.ch/[]
  15. Merkel, Wolfgang. 2020. „Wer regiert in der Krise? Demokratie in Zeiten der Pandemie“. WSI-Mitteilungen 73(6): 445–53. doi:10.5771/0342-300X-2020-6-445, S. 451.[]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert