Die schon seit Jahrzehnten andauernde Tendenz zur technokratischen Krisenpolitik, mit offen oder versteckt autoritären Strukturen, kulminierte in der ‚Covid-Krise‘. Im mehr oder weniger seit über einem Jahr andauernden Ausnahmezustand zeigt sich eine enorme Konzentration technokratisch begründeter Macht bei Regierung und Verwaltung. Damit droht sich die bereits seit längerem beobachtete Erosion der Demokratie weiter zu verschärfen.1 Wie schlimm die Lage der Demokratie bereits vor der Corona-Krise war, wird zwar kontrovers diskutiert und die Antwort auf diese Frage hängt wesentlich von hohen oder niedrigen Ansprüchen im theoretischen Verständnis von Demokratie ab. Es gibt aber zweifellos Alarmzeichen, z.B. wenn in Umfragen in Deutschland 51% verneinten, dass das politische System dem Volk Einfluss auf die Politik erlaube (European Social Survey 2018). Die politische Frustration und Enthaltung ist bei großen Teilen des Volks groß als Folge sozialer wie politischer Ungleichheit und der mangelnden „Responsivität“ der gewählten Repräsentanten (vereinfacht: das Volk und dessen Wille bleiben bei politischen Entscheidungen oft unbeachtet).2 Damit wächst die Verdrossenheit und der Anteil derjenigen, die einen Ausweg in autoritären Entscheidungsstrukturen sehen: Der Aussage „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ stimmten fast 20% voll oder überwiegend zu und weitere 24 % teilweise.3. Laut einer anderen Umfrage hielten in Deutschland über 30 % ein System für gut oder sehr gut, in dem eine starke Führungspersönlichkeit sich nicht um Parlament oder Wahlen scheren muss, in Großbritannien und Frankreich waren das sogar an die 50 %, in den USA insgesamt 32 %, bei den Jüngeren aber 44 %.4
In diesem Zusammenhang stellt die übliche Verkennung der zunehmenden rechts-autoritären Tendenzen als „Rechtspopulismus“ eine kontraproduktive Strategie der sich als „vernünftig“ begreifenden politischen Mitte und Eliten dar.5 Die als „populistisch“ abgewerteten Teile des Volks (logisch steht dem eine wissende Elite gegenüber) werden auch in sozialwissenschaftlichen Analysen herablassend als „vereinfachend“, „unterkomplex“, „personalisierend“, „emotionalisierend“, „skandalisierend“ bezeichnet, denen „manichäisches Denken“ (gut-böse oder schwarz-weiß) zueigen sei.6 Dadurch werden diese Teile das Volk, des ‚populus‘, zum „Pöbel“ abgewertet, was die so Geschmähten in ihrer Wut bestätigt. Zudem wird damit ausgeblendet oder vernachlässigt, dass die populistische Agitation, so falsch und verwerflich sie auch sein mag, nur funktioniert, weil sie auf ein tatsächliches Bedürfnis der dadurch Angesprochenen trifft.7 Mouffe betont dazu aus einer kritischen linken Perspektive, dass jede moralische Verurteilung oder Dämonisierung des Rechtspopulismus nur den Blick auf die Ursachen verstellt, die sie in der zunehmenden Ungleichheit als Folge einer auch von Mitte-Links befolgten Neo-liberalen Politik sieht und in der These des Endes der Klassengesellschaft und Rechts-Links-Gegensätze.8 Genau in diese Kerbe der bereits vorhandenen technokratischen Aushöhlung der Demokratie schlägt nun die autoritäre ‚Corona-Politik‘. Dabei ist es ein besonderes Versagen der Linken und der Links-Intellektuellen, diesen Hintergrund der verheerenden technokratischen und krisenpolitischen Erosion der Demokratie nicht zu erkennen. Zwar wird die technokratische Politik von einer großen Mehrheit der Bevölkerung gestützt. Die Ausblendung und Verengung der öffentlichen Diskussion, mit der Diffamierung sämtlicher Kritik, wird aber die demokratische politische Kultur noch weiter untergraben. Damit werden zudem diejenigen bestätigt, die in Meinungsumfragen sagten, dass man in Deutschland nicht mehr frei seine Meinung äußern könne, ohne Ärger zu bekommen, was fast die Hälfte der Befragten vor der ‚Corona-Krise‘ bejahte und was in der COVID-Krise sich weiter zuspitzte.9
Insofern ist es abschließend und ausblickend ebenso bezeichnend wie fatal, dass nun ausgerechnet aus der taumelnden und kriselnden Sozialdemokratie Stimmen laut werden, quasi die Gunst der Stunde des Corona-Ausnahmezustands zu nutzen, um die ökologische Krise in autoritärer Manier anzugehen. So wird Karl Lauterbach (prominenter SPD-Politiker, als Arzt und Ökonom seit 2020 einer der häufigsten Gäste in Talkshows im Fernsehen und einer der meistzitierten Mahner und Verfechter harter Maßnahmen in der Corona-Krise) mit den Worten zitiert: „Somit benötigen wir Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels, die analog zu den Einschränkungen der persönlichen Freiheit in der Pandemie-Bekämpfung sind.“ (DIE WELT vom 27.12.20). Dazu kommt, dass derartige autoritäre-intellektuelle Versuchungen in der Öko-Bewegung seit langem verbreitet sind, was Befürchtungen vor einer ‚Öko-Diktatur‘ weckte, aber vor der Corona-Krise bei weitem nicht mehrheitsfähig und abwegig schien. Allerdings argumentierte jüngst z.B. auch Roger Hallam, prominenter Öko-Aktivist und Mitbegründer der Bewegung „Extinction Rebellion“ in Bezug auf die ‚Klimakrise‘: „Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant“ (vgl. SPIEGEL 13.9.2019). Auch Greta Thunberg, Initiatorin der Klimaschutzbewegung ‚Fridays for Future‘, verrät eine technokratisch-autoritäre Haltung.10 Generell ist in der Klimaschutzbewegung und bei jungen Menschen ein großer Glaube an „die“ Wissenschaft verbreitet, mit der Ansicht, dass die Politik einfach wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen soll, mit der Forderung, persönliche Freiheitsrechte aufzugeben.11
Dass künftig Freiheit und Demokratie in einem wie auch immer konstruierten, wahrgenommenen oder realen klimapolitischen Notstand (mit diesem Begriff operieren bereits viele Städte, vgl. SZ vom 12.8.2019 mehr oder weniger fahrlässig), massiv bedroht sind, legt auch der Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18 -, Rn. 1-270) nahe, wo es heißt: „Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein; gerade deshalb droht dann die Gefahr, erhebliche Freiheitseinbußen hinnehmen zu müssen.“ Dieses gibt aber insbesondere angesichts des folgenden Leitsatzes zu denken: „Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schließt die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen.“ Selbst wenn also noch nicht klar und wissenschaftlich umstritten ist, inwieweit die Möglichkeit künftiger Beeinträchtigungen infolge des Klimawandels besteht, soll bereits antizipativ in Freiheitsrechte eingegriffen werden.
Auch wenn behauptet wird, es gehe um nichts weniger als „unsere Zukunft“ oder „unser Überleben“, stellt sich die Frage, ob ein Opfer von Freiheit und Demokratie im dauerhaften Ausnahmezustand verhältnismäßig und gerechtfertigt ist. Ich meine nein, denn vielmehr ist es gerade die sich häufende, ja allgegenwärtige und ekelhafte vereinnahmende Propaganda des „Wir“ („wir halten zusammen“ usw.), was an fatale faschistische Traditionen erinnert und für die Zukunft wirklich wenig Gutes erwarten lässt, und zwar bevor der Klimawandel, so schrecklich er vielleicht werden mag, zuschlägt. Ich teile allerdings nicht die Ansicht von Naomi Wolf, dass die Demokratie bereits abgeschafft und ein „Bio-oder Tech-Faschismus“ schon erreicht sei. Vielmehr sehe ich eher eine seit langem in Gang befindliche, schleichende autoritär-technokratische Aushöhlung der Demokratie, die mehr oder weniger defekt mit mehr oder weniger Propaganda weiterläuft. Zuletzt habe ich aber immer noch eine gewisse Hoffnung, dass der Widerstand gegen die skizzierten autoritären technokratischen Tendenzen wächst.
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Hintergrund von Krisenwahrnehmungen: Die Rolle von Wissenschaft und Medien (Teil 2 von Krisenpolitik…)
Der kapitalistische ‚Wohlfahrtsstaat‘ als Krisenmanager (Teil 3 von Krisenpolitik…)
Legitimation des Ausnahmezustands (Teil 4 von Krisenpolitik…)
Tendenz zur autoritären Techokratie? (Teil 5 von Krisenpolitik…)
- vgl. Merkel, Wolfgang, und Sascha Kneip, hrsg. 2018. Democracy and Crisis: Challenges in Turbulent Times. Cham: Springer.[↩]
- Vgl. Elsässer, Lea, Svenja Hense, und Armin Schäfer. 2018. „Government of the People, by the Elite, for the Rich: Unequal Responsiveness in an Unlikely Case“. MPIfG Working Paper 18(5). https://www.econstor.eu/handle/10419/180215 (18. Dezember 2020).[↩]
- Vgl. Decker, Oliver, und Elmar Brähler. 2018. Flucht ins Autoritäre: Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft (Leipziger Autoritarismus-Studie, gefördert von der Heinrich Böll Stiftung & Otto Brenner Stiftung). Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 73[↩]
- Vgl. Mounk, Sascha. 2018. Der Zerfall der Demokratie : Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. München: Droemer.[↩]
- Vgl. Mouffe, Chantal. 2018. For a left populism. London/New York: Verso Books (Ebook), S. 22).[↩]
- Vgl. die von Zick et al. gewählten Begriffe, Zick, Andreas, Beate Küpper, und Wilhelm Berghan. 2019. Verlorene Mitte — Feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018. Bonn: Dietz, JHW Nachf., S. 178.[↩]
- Vgl. Decker/ Brähler a.a.O. S. 31.[↩]
- Vgl. Mouffe, Chantal. 2018. For a left populism. London/New York: Verso Books (Ebook), S. 36[↩]
- Vgl. Zick, Andreas, Beate Küpper, und Wilhelm Berghan. 2019. Verlorene Mitte — Feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018. Bonn: Dietz, JHW Nachf., S. 164 f.); Michael Meyen (27. April 2021). Leitmedien, Angst und neue Realitäten. MEDIENREALITÄT; https://doi.org/10.58079/rchi.[↩]
- Vgl. z.B. ihr Interview „Mit Physik kann man keine Deals machen“, vgl. Tagesthemen 16.10.2020, vgl. Zulianello, Mattia, und Diego Ceccobelli. 2020. „Don’t Call It Climate Populism: On Greta Thunberg’s Technocratic Ecocentrism“. The Political Quarterly 91(3): 623–31. doi:https://doi.org/10.1111/1467-923X.12858.[↩]
- Vgl. Sommer, Moritz, Dieter Rucht, Sebastian Haunss, und Sabrina Zajak. 2019. „Fridays for Future: Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland“. Refubium – Repositorium der FU Berlin. https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/25384 (26. Februar 2021).[↩]