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Was ist ein ‚Sozial- oder Wohlfahrtsstaat‘ und wie kann dessen Entwicklung erklärt werden?

Allgemein wird meist selbstverständlich angenommen, dass ein ‚Sozial- oder Wohlfahrtsstaat‘ sich durch sozialen Ziele und Maßnahmen der sozialen Sicherung und Garantie von ‚Wohlfahrt‘ definieren lässt. Im Gegensatz zu dieser herrschenden Doktrin, dass der demokratische Sozial- oder Wohlfahrtsstaat sich durch dessen behauptete ‚Funktion‘ der Garantie von sozialer Sicherheit und Wohlfahrt oder Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit definiere, soll hier der Wohlfahrtsstaat kritisch als politisches Machtfeld rekonstruiert werden. Ich setze im folgenden Beitrag die beiden Grundlagentexte zu den begrifflichen Vorstellungen bzgl. Staat und Politik sowie Demokratie voraus. Ich möchte daran anküpfend die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Wohlfahrtsstaat und dessen Entwicklung mit seinen treibenden oder bremsenden Kräften (darunter vor allem politische Konflikte, Ideologien und Parteien) aufzeigen.

Der Wohlfahrtsstaat als ‚Wohltäter‘? (die ‚funktionalistische‘ Sichtweise)

Einschlägige Lehrbücher der Sozialpolitik und zum Sozialstaat ‚definieren‘ Sozialpolitik und Sozial- oder Wohlfahrtsstaat1 meist selbstverständlich und eher unkritisch durch eine behauptete ‚Funktion‘ der Gewährleistung von Sozialer Sicherung und Wohlfahrt, d.h. dieser gilt vereinfacht gesagt als ‚Wohltäter‘. So definieren z.B. Bäcker et al. Sozialpolitik als „all jene öffentlich erbrachten und/oder regulierten Maßnahmen, Leistungen und Dienste, die darauf abzielen, dem Entstehen sozialer Risiken und Probleme vorzubeugen, die Lebenslage einzelner Personen oder Personengruppen zu sichern und zu verbessern, die Folgewirkungen sozialer Probleme auszugleichen und soziale Ungleichheiten zu vermindern.“ 2 Entsprechend gilt bei Bäcker et al. (a.a.O. S. 2) der Sozialstaat als „…Ausdruck für die aktive, gestaltende Rolle, die der demokratische Staat im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben einnimmt, und kennzeichnet zugleich einen historisch-konkreten Gesellschaftstyp, der eine entwickelte marktwirtschaftlich-kapitalistische Ökonomie mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbindet.“ (Hervorhebung i. Orig.) D.h. der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat erscheint als rational-funktionale soziale Institution zur Lösung sozialer Probleme in marktgesteuerten, kapitalistischen Gesellschaften (vgl.: ).

Als Hintergrund der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung wird in dieser funktionalistischen Perspektive angenommen, dass der Staat aufgrund der wachsenden marktwirtschaftlichen Entwicklung und Arbeitsteilung (oder ‚funktionale Differenzierung‘), mit Verstädterung, Industrialisierung usw. , immer mehr Aufgaben der ‚Daseinsvorsorge‘, d.h. der Bereitstellung grundlegender Infrastruktur wie Straßen, Wasser- oder Energieversorgung usw., Bildung und sozialer Sicherung armer, arbeitsloser, kranker, behinderter oder verwaister Menschen übernehmen müsse und könne (siehe das Kästchen links oben im nachfolgend abgebildeten Wirkunsgmodell). Dieses geschehe im Interesse gesellschaftlichen ‚Funktionierens‘, von Ordnung, Integration und Strukturerhaltung, sofern oder weil dieses private Märkte oder familiäre und private solidarische Einrichtungen von Kirchen, Stiftungen oder Genossenschaften nicht oder unzureichend gewährleisten. Als treibende und erklärende Faktoren der sozial- oder wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung werden in dieser Perspektive vor allem ökonomische und sozio-demographische Faktoren einbezogen, die wirtschaftliche Dynamik, die zunehmende Industrialisierung, die wachsende Zahl und Dichte der Bevölkerung oder Verstädterung auf der einen Seite, Armut, soziale Notlagen oder Probleme auf der anderen (Abbildung 1 unten).

In dieser Sicht auf den Wohlfahrtsstaat treten zwangsläufig politische Prozesse, Akteure und Ideologien, d.h. die Kämpfe um Macht, Herrschaft und Interessendurchsetzung widerstreitender Gruppen in den Hintergrund.3 Entsprechend werden z.B. im Lehrbuch von Bäcker et al. zwar ausführlich sozialpolitische Maßnahmen, Leistungen und Dienste beschrieben,4 politische Parteien und Ideologien finden sich hier aber nur vereinzelt.5 Die oft selbstverständliche Annahme, dass sich der Sozial- oder Wohlfahrtsstaat durch ‚Zwecke‘ oder ‚Funktionen‘ definieren ließe, d.h. dass dieser alleine oder in erster Linie dazu diene, soziale Sicherheit, Wohlfahrt und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, führt somit zur mangelnden Berücksichtigung der Aspekte gesellschaftlicher und politischer Herrschaft und so zu deren Stabilisierung und Reproduktion.

Beispiel: Wie politische Konflikte funktionalistisch verkannt und transformiert werden können, zeigt sich z.B. an der Frage der Alterung der Gesellschaft oder dem ‚demographischen Wandel‘, was in den letzten Jahren als vermeintlicher ‚Sachzwang‘ für ‚alternativlose Reformen‘ sozialer Sicherung konstruiert wurden.6 Dabei wurden nicht nur die prognostizierten demographischen Veränderungen einseitig negativ interpretiert und überschätzt (so lässt der schon seit Jahrzehnten vorhergesagte Schwund der Bevölkerung noch immer auf sich warten), sondern es werden auch ökonomische und politische Fragen, vor allem Verteilungskonflikte, ausgeblendet oder demographisch umgedeutet (zur „Demographisierung des Sozialen“ s. Barlösius ). Damit wurden die als ‚alt‘ oder ‚veraltet‘ deklarierten sozialen und politischen Konflikte von Kapital und Arbeit bzw. Reich-Arm zugunsten ‚neuer‘ Gegensätze von ‚Jung‘ und ‚Alt‘ oder der Generationen und neuerdings Fragen der ‚Zukunftssicherung‘ oder ‚Nachhaltigkeit‘ des Sozialstaats in den Hintergrund gedrängt und transformiert. Die Diskussionen um den ‚demographischen Wandel‘ und die damit konstruierte ‚Krise des Sozialstaats‘, insbesondere aber der Rentenversicherung, wurden auffällig von kapitalistischen ‚think tanks‘ vorangetrieben, wie der von der Metall- und Elektroindustrie geförderten ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft‘ oder der ‚Bertelsmann-Stiftung‘, zu denen nicht zuletzt think-tanks und Lobbyisten der Versicherungs- und Finanzwirtschaft kommen, welche allesamt demographische Krisenszenarien begründeten und propagierten, um scheinbar ‚unausweichliche Reformen‘ zugunsten von Kapitalinteressen durchzusetzen (vgl. ; siehe dazu auch meinen Beitrag ‚Demographischer Wandel oder Schwindel‘).7

Aber auch schon ein kurzer Blick auf die Verhältnisse in den ‚real existierenden‘ Wohlfahrtsstaaten zeigt, dass das Verständnis des Sozialstaats als Garant von Freiheit, Gleichheit und Solidarität als Ideologie zu kurz greift und oft weit von der Wirklichkeit entfernt ist. Trotz enormer sozialstaatlicher Ausgaben und unbestrittener Erfolge bleiben in Wohlfahrtsstaaten krasse Gegensätze von Armut und Reichtum und zum Teil extreme soziale Nöte, so z.B. in deutschen Großstädten, wo viele wohnungs- oder obdachlose Menschen, die bettelnd vor Einkaufstempeln, Luxusboutiquen und -karossen sitzen und Ungleichheit sowie Grenzen des Wohlfahrtsstaats wie in einem Brennglas auf den Punkt bringen.8 Neben der (zwar selten vorkommenden) extremen und lebensbedrohlichen Armut in Wohlfahrtsstaaten, untergräbt die schleppende Bekämpfung von Armut und Hunger im globalen Maßstab die Ideologie und Legitimation der ‚Wohlfahrtsstaaten‘, angesichts der globalen kapitalistischen Arbeitsteilung und des exorbitanten Reichtums.9 Angesichts des krassen Gegensatzes von Hunger und Reichtum wählt z.B. Jean Ziegler den Buchtitel: ‚Wir lassen sie verhungern‚ und spricht von ‚Mord‚. Erinnert sei im Zusammenhang von Armut und Ungleichheit auch an die systematisch nicht ‚trocken gelegten‘, ja auch von Wohlfahrstsstaaten wohl gehegten, Oasen oder Sümpfe der ‚Steuerflucht‘, die auch innerhalb von Wohlfahrtsstaaten bestehen 10

Der Wohlahrtstaat als politisches Machtfeld

Deshalb soll hier der (‚real existierende‘) demokratische Wohlfahrtsstaat zuallererst als Machtfeld verstanden werden, auf dem verschiedene gesellschaftliche Akteure und Gruppen (Reiche oder Arme, Kapitalisten oder Arbeitende, ‚hoch‘ oder ‚gering‘ Gebildete usw.) darum konkurrieren und kämpfen, ihre jeweiligen Sichtweisen und Interessen als allgemein verbindliche durchzusetzen und wohlfahrtsstaatliche Regelungen, Tranfers oder Dienste in Gang zu setzen, um ihre Wohlfahrtspositionen zu verbessern oder zu verteidigen. Die Frage wohlfahrtsstaatlichen ‚Handlungsdrucks‘ und die Art sowie Reichweite von ‚Maßnahmen‘ oder ‚outputs‘ ist nämlich eine genuin politische Frage und ein Ergebnis von Kämpfen und Konflikten verschiedener politischer Akteure, Gruppen, Lager oder Klassen mit ihren jeweiligen Ideen und Ideologien. Im Übrigen ist zu beachten, dass es bei wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen weniger um ‚Eingriffe‘ oder eine Politik gegen Märkte geht, als vielmehr darum, diese überhaupt erst zu moblisieren oder am Laufen zu halten, durch die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, Eigentum, einigermaßen fairen oder akzeptablen Wettbewerbsbedingungen, die Bereitstellung öfffentlicher Güter wie Infrastruktur und Bildung sowie nicht zuletzt Arbeitsschutz und Einkommenssicherung, sofern dieses nicht ausreichend durch Märkte oder Familien gewährleistet wird.

Insofern organisiert und ordnet der ‚Wohlfahrtsstaat‘ eine sich dynamisch entwickelnde kapitalistische, industrielle Gesellschaft (was in der funktionalen Perspektive betont wird), wobei er zur Herrschaftssicherung oder ‚Systemerhaltung‘ die damit verbundenen anomischen Tendenzen durch soziale Probleme wie Armut etc., Revolten, Abwanderung, Apathie oder Kriminalität, bekämpt oder vermindert (). Das unten gezeigte theoretische Modell (Abbildung 1) verdeutlicht das Zusammenspiel der angesprochenen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung (v.a. Verstädterung und Industrialisierung) einerseits und der sich bildenden kollektiven Akteure mit ihren unterschiedlichen Machtressourcen, Ideen und Ideologien andererseits (vgl. Abbildung 1), woraus sich schließlich bestimmte instutionelle Systeme oder ‚Regime des ‚Wohlfahrtskapitalismus‘ oder ‚Wohlfahrtsstaats‘ mit unterschiedlichen Maßnahmen der Sozialpolitik und entsprechenden ‚Wohlfahrtsniveaus‘ entwickeln (Abbildung 1). Die Entwicklung von Sozial- oder Wohlfahrtsstaaten lässt sich somit durch ein Zusammenwirken unterschiedlicher Aspekte erklären, wobei sowohl klassisch funktionalistische Aspekte sozialer wie ökonomischer Veränderungen, Soziale Probleme und ökonomische Möglichkeiten eine Rolle spielen, wie auch eher konflikttheoretisch soziale und politische Konflikte und die Machtressourcen unterschiedlicher Akteure. Schließlich werden auch institutionalistische Sichtweisen einbezogen, vor allem die Kraft und Eigentdynamik von Institutionen oder Regimen mit ihren Leitideen (vgl. Abbildung 1). Dabei verbinden sich politische Ideen und Ideologien zum einen mit den politischen Interessen und Akteuren und zum anderen mit daraus resultierenden politischen Institutionen und Regimen, woraus am Ende ein unterschiedlicher sozialpolitischer ‚output‘ (Recht, Geld, Dienste) und ‚outcomes‘ als ‚Wohlfahrt‘ resultieren.

Abbildung 1: Analytisches Modell der Sozialpolitik
Quelle:

Doch bevor auf die unterschiedlichen Regime des ‚Wohlfahrtskapitalismus‘ näher eingegangen wird, soll zuerst die Messung von Wohlfahrt und des Ausmaßes an ‚Wohlfahrtsstaatlichkeit‘ aufgezeigt und diskutiert werden.

Zur Messung von Wohlfahrt und Wohlfahrtsstaat

Wohlfahrt oder Wohlergehen ist in kapitalistischen Gesellschaften nach wie vor wesentlich ökonomisch bestimmt, weil Geld als universelles Tauschmittel für die Befriedigung fast aller Bedürnfisse bedeutsam ist. Darüber hinaus sollte Wohlfahrt aber auch mehrdimensional, durch Gesundheit, Bildung, Kultur oder anhand sozialer Beziehungen und Teilhabe sowie politischer Rechte bestimmt und gemessen werden. Zudem ist Wohlfahrt (oder ‚Lebensqualität‘) in einem Gefüge soziale Beziehungen und Positionierungen zu verorten und objektiv wie subjektiv zu begreifen (vgl. ; ). Was in der einen Gesellschaft oder von einigen als wohlhabend gilt, kann von anderen als ärmliche, bedauernswerte Lage erscheinen. Allerdings korrelieren im Ländervergleich objektive. ökonomische Aspekte von Wohlfahrt (Bruttoinlandsprodukt/Kopf) stark mit der in den Ländern in Umfragen geäußerten subjektiven Lebensqualität, der Zufriedenheit oder dem Glücksempfinden; der Zusammenhang verläuft aber in einer abnehmenden Kurve, d.h. mit zunehmendem ökonomischem Wohlstand steigt die subjektive Zufriedenheit in einem Land immer weniger an, sie stößt quasi an eine Decke der Saturierung (; ). Bei der subjektiven Messung von Lebensqualität oder dem ‚Glücksempfinden‘ und in entsprechenden Befragungen muss aber auch das Problem berücksichtigt werden, dass Antworten verzerrt sein könnten, weil sich z.B. Ärmere oder Benachteiligte oft trotz aller Not zufrieden oder glücklich zeigen, v.a. weil sie ihre Erwartungen anpassen (Adaption); auf der anderen Seite äußern Privilegierte in Wohlfahrtsstaaten oft trotz aller Privilegien eine schlechte subjektive Lebensqualität (sog. Dissonanz).

Übrigens kommen als Quellen für Wohlfahrt und Lebensunterhalt grundsätzlich drei Sektoren in Betracht: Erstens der Markt, auf dem Einkommen durch Lohnarbeit oder Kapitalinvestition erzielt werden können, wobei für 47% der gesamten Bevölkerung Lohnarbeit die Hauptquelle zur Bestreitung des Lebensunterhalts ist, 1% lebt hauptsächlich von Einkommen aus Kapitaleinsatz oder Vermögen) (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 265 vom 11. Juli 2019). Zweitens bestreiten in Deutschalnd ca. 28% ihr Leben hauptsächlich aus staatlichen Transfers oder der Sozialversicherung, 22 % leben von Renten- und Pensionen, 7 % aus Transfers wie z.B. Arbeitslosengeld, Grundsicherung, BAföG oder Elterngeld. Drittens stellt aber auch die Familie für immerhin 24% der Menschen noch die Hauptquelle ihres Lebensunterhalts dar (durch die solidarische Unterstützungen von Familienangehörigen) (Statistisches Bundesamt ebd.).11

Ausmaß von Wohlfahrtsstaatlichkeit: Oft wird dazu die Summe der Sozialausgaben herangezogen und auf die gesamte Wirtschaftsleistung bezogen als Sozialleistungsquote (2017 betrug diese in Deutschland 29,6%; vgl. Statistisches Jahrbuch 2019). Die Summe der Sozialausgaben ist allerdings grob und nicht sehr aussagekräftig für die Frage, inwiefern der Staat gleiche soziale Rechte und Teilhabe für alle garantiert (vgl. ). So können Sozialausgaben infolge von Armut und Arbeitslosigkeit steigen, soziale Teilhaberechte also geringer werden, oder Sozialleistungen sind nicht sehr zielgerichtet, ineffizient oder ineffektiv. So gibt es z.B. in Deutschland sozialpolitisch wenig fokussierte oder eher kontraproduktive, die Ungleichheit fördernde Leistungen, wie Subventionen an Wirtschaftsunternehmen oder Steuergutschriften im Bereich der Ehe- und Familienförderung, die somit Privilegierten zugute kommen und die Ungleichheit eher fördern. Zudem ist die Vergleichbarkeit der Sozialleistungsqoute zwischen den Ländern oft eingeschränkt und je nach Datenquellen und Methoden werden sehr unterschiedliche Werte ausgewiesen, wobei noch die Unterscheidung von ’netto‘ und ‚brutto‘ für zusätzliche Schwierigkeiten der Vergleichbarkeit sorgt.

Deshalb lassen sich Wohlfahrtsstaaten besser in der Tradition von Esping-Andersens Ansatz () messen und vergleichen hinsichtlich des Ausmaßes staatlich garantierter, gleicher sozialer Rechte, primär außerhalb von Märkten als ‚Dekommodifzierung‚ und ‚Stratifizierung‚. Ersteres kann mit Minderung der Warenförmigkeit übersetzt werden, was von commodity, (englisch für Ware) kommt, weil Menschen in kapitalistischen Gesellschaften ohne sozialstaatlichen oder familiären Rückhalt gezwungen sind, ihre Arbeitskraft als Ware auf Märkten feilzubieten, ggf. auch unter miesen Bedingungen oder Hungerlöhnen, um zu überleben. Das zweite wohlfahrtsstaatliche Merkmal der Stratifizierung wird in der Regel anhand der Verteilung von Einkommen und Vermögen bestimmt, z.B. durch den Gini-Koeffizienten oder das Verhältnis der Einkommen von Reichsten (z.B. 10%) zu den Einkommen der Ärmeren (10%) bestimmt. Auch dem liegt wesentlich die Konfliktlinie um ‚Staatseingriffe‘ in die durch den Markt hergestellte Einkommens- und Vermögensverteilung zugrunde.

Schließlich führte Esping-Andersen erst 1999 eine ergänzende Dimension der Wohlfahrtsstaatlichkeit ein, die ‚Defamilialisierung‚ als garantierte soziale Rechte oder Wohlfahrt unabhängig oder außerhalb von Familien (). Defamilialisierung bestimmt Esping-Andersen durch den Anteil der Ausgaben für soziale Dienste am Bruttoinlandsprodukt, die Versorgung und Transfers für Kinderbetreuung, dem Anteil der Kinder unter 3 Jahren in Tagesbetreuung und dem Anteil der Älteren über 65 Jahren mit Hilfen durch ambulante Dienste; der ‚familialistische‚ Charakter lässt sich ergänzend durch den Anteil älterer Menschen, die gemeinsam mit ihren Kindern leben, dem Anteil jüngerer nicht arbeitender Kinder, die im Haushalt ihrer Eltern leben und der wöchentlichen unbezahlten Arbeitsstunden von Frauen bestimmen (vgl. ebd. 61 f.; weiterführend s. z.B. ).

Politische ‚Regime‘ des Wohlfahrtskapitalismus: Konservativ, Liberal, Sozialdemokratisch

Entlang der skizzierten Dimensionen und ‚Kampflinien‘ des Wohlfahrtsstaats (soziale Rechte außerhalb von Markt und Familie) verbinden sich unterschiedliche politische Lager, die nach Esping-Andersen je nach Kräfteverhältnissen zu entsprechenden Typen oder ‚Regimen‚ des ‚Wohlfahrtskapitalismus‚ (Liberal, Konservativ und Sozialdemokratisch) führen.12 Die Regime sind ein Resultat der Macht sozialer und politischer Bewegungen sowie spezifischer Staatstraditionen: Das universalistische (sozialdemokratische) Regime wurde durch starke Gewerkschaften und Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten vorangetrieben, während eine dynamische Marktwirtschaft und schwache Gewerkschaften sowie Arbeiterparteien wesentliche Ursachen für die Durchsetzung liberaler Kräfte und Regime sind, eine starke Staatstradition oder -orientierung und Christdemokratie führten zu stratifizierenden konservativen Wohlfahrtsstaaten (Ebbinghaus, , S. 124). `Die Regime passen auffällig zur Losung von ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ (oder ‚Solidarität‘), mit den entsprechenden Präferenzen im Bezug auf die Steuerungsinstitutionen Markt, Staat und Familie (bzw. subsidiäre Selbstorganisation). Da es sich um idealtypische Konstruktionen und Zuspitzungen handelt, können die real vorkommenden Ideologien sowie Wohlfahrtsstaatstypen dem aber nicht immer gut entsprechen, so dass Unschärfen, Widersprüche oder Schwierigkeiten der Zuordnung blieiben. Die Geschichte und der Weg zu den unterschiedlich angelegten Wohlfahrtsstaaten ist lang, verschlungen und widersprüchlich, so dass auch mit den skizzierten politischen Ideologien und Regimen keine einfache, lineare Entwicklungslogik verbunden ist (vgl. Obinger & Petersen, , S. 13 ff.; weiterführend: ; ; ).

Zwar war es zuerst eine konservativautoritäre Regierung im Deutschen Reich, die 1883 mit der Krankenversicherung eine Sozialversicherung einführte; kurz darauf folgten Unfall- und Rentenversicherung, 1927 die Arbeitslosenversicherung (nun auch unter dem gewachsenen gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Einfluss). Es war vereinfachend und zugespitzt formuliert eine ‚Flucht nach vorn‘ in einer ‚Doppelstrategie‘ von ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ (vgl. Ebbinghaus, , S. 123): Der autoritäre Staat zielte als ‚väterlicher Patron‘ darauf, die massenhafte Not der Industriearbeiterschaft und ihrer Familien zu lindern, um diese an den ständischen, autoritären Staat zu binden und aufkeimende sozialistische Bewegungen antizipativ zu begegnen.13. Deshalb darf auch die von Bismarck & Co. eingesetzte ‚Peitsche‘ politischer Repressionen gegen die Arbeiterbewegung bei der Gründung des konservativen Wohlfahrtsstaats nicht außer Acht gelassen werden. Zudem unterstützte die zentralstaatliche Regulierung auch die Konsolidierung des noch jungen, fragilen Nationalstaats unter preußischer Führung. Bei der Gründung des konservativen Wohlfahrtsstaat war nicht nur im deutschen Fall eine christdemokratische, politisch moderat konservativ-rechts ausgerichtete Ideologie prägend, wobei kirchliche wie bürgerliche Kräfte auf einen mittleren ‚Dritten Weg‘ der bürgerlichen Sozialreform zwischen Kommunismus und Kapitalismus oder einen abgemilderten ‚rheinischen Kapitalismus‘ drängten (vgl. ).14 Die konservativ-christdemokratische Prägung führt dazu, dass ‚Subsidiaritätsprinzip‘ und ‚Familialismus‘ wesentliche Elemente der Sozialpolitik darstellen. Deshalb wurde von der konservativen Regierung um Bismarck auch keine universelle oder weitreichende soziale Sicherung durch den Staat realisiert, sondern eine subsidiäre, korporatistische und ständisch differenzierte Sozialversicherung, zunächst für Industriearbeitende und ihre Familien und auf noch relativ niedrigem Niveau, wobei u.a. ‚Selbständige‘ und andere Privilegierte außerhalb des begrenzten Solidarsystems blieben. Die Solidarversicherung wurde zudem von Arbeitenden und Kapitaleignern oder ‚Arbeitgebern‘ selbst organisiert und finanziert.15 Insgesamt weist das konservative Wohlfahrtsstaatsregime, für das Deutschland paradigmatisch steht, deshalb auch meist nur mittlere Niveaus sozialer Sicherung und Gleichheit auf. Die Unterschiede zum universalistischen Regime sozialdemokratischer Prägung fallen insbesondere auf, wenn nicht die — heute meist relativ hohen — Sozialausgaben herangezogen werden, sondern die Dekommodifizierung, insbesondere in den Bereichen der Arbeits- und Armutspolitik. Dennoch wird aber mit der Sozialversicherung und dem Prinzip des Rechtsanspruchs auf standardisierte Versicherungsleistungen ein entscheidender Schritt zum modernen ‚Wohlfahrtsstaat‘ vollzogen und weg von der freiwilligen, unsystematischen und überforderten, nicht zuletzt stigmatisierenden, kommunalen Armenfürsorge samt ‚Armenhaus‘ (vgl. ).16

Als Hintergrund der Entstehung von Wohlfahrtsstaaten müssen zweitens aber auch liberale politische Ideen und Lager berücksichtigt werden, die im Rahmen ‚bürgerlicher Revolutionen‘ lange vor der Einführung sozialstaatlicher Sicherungen für universelle Freiheitsrechte und soziale wie politische Teilhabe kämpften, gegen die in der ständisch-autoritären Gesellschaft herrschenden Mächte von Adel und Klerus. Der vor allem (aber nicht nur) vom aufstrebenden städtischen Bürgertum getragene Kampf für eine liberale Demokratie bereitete auch der Arbeiterbewegung wie dem demokratischen Wohlfahrtsstaat den Boden, auch wenn Liberale später zusehends mit säkular-Konservativen gegen einen als ‚bevormundend‘ oder überzogen kritisierten Wohlfahrtsstaat Front machten. Dazu muss betont werden, dass die breite liberale politische Strömung, die von eher links-libertären, radikaldemokratischen bis zu rechts-konservativen Nationalliberalen reicht, hier nur zugespitzt und verkürzt skizziert werden kann. Immer stärker setzte sich aber schließlich eine eher wirtschaftsliberale Perspektive durch, die tendenziell mit säkular-konservativen Strömungen einig ist in der Ablehnung wohlfahrtsstaatlicher ‚Eingriffe‘ in die Marktfreiheit. Demzufolge gilt eben grundsätzlich nicht der Wohlfahrtsstaat als ideale wohlfahrtsgenerierende Institution, sondern ein möglichst freies Spiel konkurrierender gesellschaftlicher Kräfte und Akteure auf Märkten. Der Staat soll sich in dieser Sichtweise auf die Gewährleistung einer freiheitlich-demokratischen Rahmenordnung mit der Garantie von Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Ordnung beschränken. Weitergehende oder wie auch immer gut gemeinte sozialstaatliche Eingriffe und Hilfen werden aus der liberalen wie auch säkular konservativen Perspektive als sozialistische Bevormundung, Gleichmacherei oder kontraproduktiv zurückgewiesen, weil sie die freiheitliche Initiative und Marktdynamik nur verzerren oder lähmen. Entsprechend weisen liberal geprägte Wohlfahrtsregime (als Standardfall gilt die USA) meist niedrige Grade der Dekommodifizierung auf, bei einer großen Ungleichheit, wobei die auf das notwendigste Maß begenzte sozialstaatliche Sicherungen vor allem auf Arme zielen. Ungleichheit gilt in der liberalen Doktrin nicht nur als zwangsläufige Begleiterscheinung der vorrangigen Freiheit, sondern bis zu einem gewissen Grad als notwendiger Anreiz für Leistung, Kreativität und Innovation. Daran wird deutlich, dass sich die liberale (bürgerliche) Ideologie zu einer elitären, konservativen Haltung verwandelt, wenn sie die reale Ungleichheit von Chancen vernachlässigt. Im Übrigen können nämlich auch die in liberalen Regimen wie den USA favorisierten, durchaus vielfältigen privaten wohltätigen Stiftungen oder ‚charities‘ einer relativ stark entwickelten Zivilgesellschaft die meist krasse Ungleichheit und sozialstaatlichen Defizite kaum ausgleichen.

‚Last not least‘ drängten vor allem sozialistische und sozialdemokratische Kräfte, die gesellschaftlich primär in der Arbeiterbewegung verankert sind (auch wenn dazu u.a. auch Vertreter der Bourgeoisie wie Marx oder Engels stießen), auf die nicht nur formale Herstellung von Gleichheit. Indes war in der Arbeiterbewegung die Einstellung zum Wohlfahrtstaat ambivalent und umstritten: In der radikalen sozialistischen oder kommunistischen Perspektive gilt dieser als Herrschafts- und Manipulationsinstrument oder ‚Mogelpackung‘ der herrschenden Klassen. Die von Sozialdemokraten irgendwann favorisierte gemäßigte oder reformorientierte Strategie, d.h. soziale Fortschritte innerhalb eines akzeptierten Kapitalismus per demokratischem Sozialstaat zu verwirklichen, wird in der radikalsozialistischen Sicht als „Sozialstaatsillusion“ abgelehnt, „die noch immer damit geendet habe, den Sozialismus als Ziel ganz aufzugeben“ (, S. 7. f.). Ungeachtet dessen hat sich aber letztlich, nach langen blutigen Kämpfen, der ‚Klassenkompromiss‘ Wohlfahrtsstaat durchgesetzt und die Sozialdemokratie wurde spätestens nach dem 2. Weltkriegs ihr stärkster Verfechter und Vorreiter in einer enormen wohlfahrtsstaatlichen Expansion der ‚goldenen‘ 1960er und -70er Jahre, insbesondere in den skandinavischen Ländern wie Schweden. Diese zeichnen sich im internationalen Vergleich traditionell durch einen hohen Grad an Dekommodifizierung und Gleichheit aus, hohen Sozialausgaben und Steuern sowie einem umfassenden System staatlich organisierter Dienstleistungen.17Allerdings hat auch in den sozialdemokratischen Musterländern wie Schweden seit ca. Mitte der 1990er Jahre ein liberal-konservativer, ‚re-kommodifizierender‘ Geist mit dem Abbau sozialstaatlicher Teilhaberechte Macht gewonnen (dazu mehr siehe ‚Wohlfahrtsstaatsreformen‘).

Nachfolgend zeigt ein vergleichender Blick auf die Regimetypen des Wohlfahrtskapitalismus nach Esping-Andersen und dem Anteil der Regierungsbeteiligung (Kabinettsitze) politischer Parteien der letzten Jahre (1950-2015), dass die Regimetypen im Großen und Ganzen recht gut mit dem Grad der Dominanz der entsprechenden politischen Parteien der letzten Jahrzehnte einhergehen (Tabelle nachfolgend).Werden die Regime mit 1=Liberal, 2=Konservativ und 3=Sozialdemokratisch kodiert und die dominanten Parteifamilien mit 1=Konservativ, 2=Liberal, 3=Christdemokratisch, 4=Zentristisch und 5=Sozialdemokratisch, ergibt sich ein Rangkorrelationskoeffizient nach Spearman-Rho von rs=0,750**, N=18; zudem korrelieren die Regime mit dem Anteil sozialdemokratischer minus säkular-konservativer Regierungsbeteiligung; rs=0,711**, N=18.)) In den sozialdemokratisch geprägten Regimen gibt es über die gesamte Zeit eine erwartete Dominanz sozialdemokratischer Parteien an der Regierung, während in den Ländern, die dem liberalen Regimetypus zugeordnet werden, meist säkular-konservative oder liberale Parteien dominieren, hier sind allenfalls zentristische Parteien, kaum sozialdemokratische oder linke Parteien an der Regierung zu finden. Schließlich zeigt sich beim konservativen Regimetypus, dass neben den christdemokratischen auch öfters säkular-konservative Parteien an der Regierung dominierten.18

Tabelle 1: Regime des Wohlfahrtskapitalismus und Anteile der Regierungsbeteiligung politischer Parteien (ca. 1945-2020) (Mittelwerte) in Prozent
Quelle: (Welfare State Regimes), Schmidt & Zohlnhöfer et al. 2020, (Party Composition of Government).

Damit lässt sich die aus dem Machtressourcenansatz um Esping-Andersen und Korpi stammende ‚Parteiendifferenzthese‘ weiterhin untermauern (vgl. Korpi, ; Ebbinghaus, ). Dieses gilt trotz der Kritik und der These von ‚New Politics‘, wonach der Einfluss der Parteiendifferenz und vor allem des Links-Rechts-Gegensatzes auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in neuerer Zeit der ‚Reformpolitik‘ und Sachzwängen (wie Globalisierung oder Demographischer Wandel) geschwunden sei (siehe: ; ; ). Jedenfalls korreliert der Anteil sozialdemokratischer minus säkular-konservativer Parteien an der Regierung (1950-2008) zumindest bivariat immer noch recht gut mit einem mehr oder weniger ausgebauten Wohlfahrtsstaat im Sinne garantierter Teilhaberechte im Jahr 2010 (Total welfare generosity nach Scruggs) und auch mit dem durch Wohlfahrtsstaaten hergestellten oder ‚organisierten‘ Maß an Ungleichheit von verfügbarer Einkommen (Abbildungen nachfolgend).19

Abbildung 2: Anteil der Regierungsbeteiligung Sozialdemokratischer minus Säkular-Konservativer Parteien in Prozent (1950-2008) und Wohlfahrtsstaatliche Generösität (2010)
Anmerkung: R2=0,54, ohne Irland, 0,57 ohne Irland und Japan.
Quelle: Eig. Berechnung und Erstellung nach: , S. 332 f.; (Regierungsbeteiligung linker Parteien 2010) und: Scruggs et al. (Welfare Generosity), ‚Comparative Welfare Entitlements 2017-09′ (TOTGEN).
Abbildung 3: Regierungsbeteiligung Sozialdemokratische minus Säkular-Konservative Parteien (1950-2008) und Ungleichheit verfügbarer Einkommen (Gini-Koeffizient, 2012)
Quelle: Eig. Berechnung und Erstellung nach: OECD (Einkommen, Gini-Koeffizient); (Regierungsbeteiligung Sozialdemokratischer vs. Säkular Konservativer Parteien)

Pfadabhängigkeit und Eigendynamik wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung

Die vorstehend genannten Befunde unterstreichen aber auch die These der ‚Pfadabhängigkeit‘ der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung, d.h. dass sich einmal etablierte Wohlfahrtsstaatsregime durch eine hohe Beharrungskraft und nur schrittweise erfolgende Veränderungen auszeichnen (siehe das theoretische Wirkungsmodell oben). Die wohlfahrtsstaatlichen Regime und Institutionen entfalten oft relativ unabhängig vom ökonomischen und sozialen wie auch politischen Umfeld eine erstaunlich kontinuierliche, eigendynamische Entwicklung. So gilt z.B. für den konservativ geprägten deutschen ‚Sozialversicherungsstaat‘, dass dieser zumindest in den Grundzügen bis heute Bestand hat, auch wenn viele kleine Schritte der Ausweitung oder ‚Reform‘ erfolgten.20 So wurde zwar der deutsche Sozialstaat zum einen immer stärker sozialdemokratisch erweitert und universalistischer (z.B. in der Familienpolitik durch eine starke Ausweitung sozialer Dienste). In neurer Zeit wurden aber auch ‚Reformen‘ mit liberalen Akzenten vorgenommen: Dieses ist insbesondere in der Renten- und Arbeitslosenversicherung zu beobachten, wo eine Tendenz zur Grundsicherung die konservativ-ständische Status- und Lebensstandardsicherung zumindest ergänzte. Auch in der Kranken- und Pflegeversicherung wurden liberal akzentuierte Elemente des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs eingeführt (was in den gesamten Sektor sozialer Dienste ausstrahlt. Die Pflegeversicherung knüpfte zwar einerseits an die Tradition der Sozialversicherung an, andererseits wurde sie als Grundversicherung angelegt sowie eben mit weiteren liberal akzentuierten Elementen. Zugleich wurden aber im deutschen Sozialstaat auch grundlegende Strukturen bis heute weitergeführt, so z.B. die konservativ-ständische Komponente, indem ‚Selbständige‘, Beamte und Berufsstände wie Ärzte oder Juristen weiter in eigenen, hochwertigeren ‚Versorgungssystemen‘ außerhalb des verpflichtenden Solidarsystems belassen wurden. Zur wohlfahrtsstaatlichen Kontinuität trugen in Deutschland auch politisch-institutionelle Rahmenbedingungen der ‚Politikverflechtung‘ mit einem starken Druck zum Konsens bei. Grundlegende sozialpolitische Gesetze erfordern eine Mehrheit in Bundestag wie Bundesrat, wobei real aber meist eine gegenläufige Mehrheit in den beiden Kammern vorliegt. Daraus folgt ein starker Druck zum Konsens, vor allem für die beiden großen konkurrierenden Parteien (Christ- und Sozialdemokraten), oder quasi offen oder verdeckt ein Zwang zur ‚großen Koalition‘ in der Sozialpolitik. Zudem gelten bei einer scheiternden Einigung über Gesetzesänderungen die bisherigen Regelungen weiter, so dass eher kleine Schritte der Veränderung auf einem ‚mittleren Weg‘ auch aufgrund dieser institutionellen Rahmenbedingungen wahrscheinlich sind ().

Dazu wird generell angenommen, dass föderale, dezentrale Entscheidungsstrukturen eines Regierungssystems und eine wachsende Anzahl und Heterogenität beteiligter ‚Veto-Spieler‘ grundlegende Veränderungen hemmen, allerdings die Expansion wie auch den Abbau oder grundelgende Reform des Wohlfahrtsstaats (vgl. Wenzelburger, ). Weitere wichtige institutionelle Faktoren bilden das Wahlrecht (Mehrheitswahlrecht versus Verhältniswahlrecht) und die Strukturen der politischen Interessenvermittlung (Konkurrenz- vs. Konkordanzdemokratie, Korporatismus vs. Pluralismus). Dass sich politische Ordnungen und Institutionen selten radikal ändern und eher Schritt für Schritt oder evolutionär wachsen, dazu tragen eher korporatistische Strukturen, das Verhältniswahlrecht und konkordanzdemokratische sowie dezentrale föderalistische Strukturen, oder allgemein die Stärke sowie Heterogenität von ‚Veto-Spielern’ bei. Da in Deutschland vom Volk meist in Bund und Ländern parteipolitisch konträr zusammengesetzte Regierungen ermächtigt werden, die aufgrund des Verhältniswahlrechts zudem meist in Koalitionen gebunden sind, unterliegen sozialpolitische Entscheidungen in Deutschland einem starken Einigungszwang (vgl. die kritische Sicht bei: ). Infolgedessen überwiegen in der deutschen Sozialpolitik moderate pfadabhängige Lösungen des ‚mittleren Wegs’, zumal eben die Ideologie des ‚weder Kommunismus noch Kapitalismus’ oder die ‚Soziale Marktwirtschaft’ eine bis heute in hohem Maße einigungsstiftende Formel bildet.

Literatur

  1. Hier wird der international übliche Begriff Wohlfahrtsstaat verwendet und zur Vereinfachung weitgehend synonym zum in Deutschland üblichen Sozialstaat, ungeachtet der Unterschiede und Diskussionen im Einzelnen; siehe dazu: .[]
  2. Vgl. ähnlich: .[]
  3. Nach Weber lässt sich Macht durch die Chance definieren, dass innerhalb einer sozialen Beziehung der eigene Willen auch gegen Widerstreben durchgesetzt werden kann, Herrschaft als Chance, Gehorsam für bestimmte Befehle bei bestimmten Personen zu finden; vgl. .[]
  4. Diese werden laufend aktualisiert mit wertvollen Daten und Informationen unter: www.sozialpolitik-aktuell.de[]
  5. So kommt im Lehrbuch von Bäcker et al. nur einmal der Begriff ‚links‘ vor (oder die Zeichenfolge „link*“, wobei „linke Achse“ als Bezeichnung in Diagrammen unberücksichtigt blieb), „kommunist*“ taucht gar nicht auf, „SPD“ und „Grün*“ werden je viermal, „sozialdemo*“ sechs Mal, „sozialist*“ fünfmal genannt; „CDU“ findet sich zwei Mal, „konservativ“ neunmal und „FDP“ einmal; nur „liberal“ tritt mit 24 Nennungen häufiger auf (darunter neunmal mit „neo“ verknüpft); vgl. ähnlich bei: .[]
  6. Siehe Rentenreformen 2002 ff. mit der teilweise erfolgten ‚Re-privatisierung‘ des Risikos der Einkommenssicherung im Alter und dem Umbau von einer lebensstandardsichernden Rente zur Grundsicherung; vgl. .[]
  7. zur INSM siehe z.B.: Leif & Speth, , zur Bertelsmann-Stiftung siehe z.B.: Schuler, ; .[]
  8. Bzgl. der Bestimmung von Armut und Reichtum bleiben zudem auffällig große Datenlücken und Unklarheiten, vor allem bzgl. des oft unterschätzten Reichtums, wobei besonders Vermögen sehr ungleich verteilt sind, vgl.: , World Inequality Report 2018, World Inequality Database, vgl. OXFAM 2019; zu Deutschland vgl. DIW Wochenbericht 29/2020; bzgl. Einkommen, global siehe: ; www.ourworldinata.org, Roser 2013. für Deutschland siehe: Grabka/Göbel 2020, DIW Wochenbericht 18/2020.[]
  9. Vgl. Human Development Report 2019, S. 7, wo von über 600 Mio. Menschen in extremer Einkommensarmut mit weniger als 1,90 $/Tag und 1,3 Mrd. in multimensionaler Armut die Rede ist, interessanterweise findet sich dort aber keine Zahl der Hungernden mehr und Hunger kommt als Stichwort nur vier Mal vor[]
  10. http://gabriel-zucman.eu/files/TWZ2018Slides.pdf; https://oxfamilibrary.openrepository.com/handle/10546/620159, https://en.wikipedia.org/wiki/Tax_haven; https://www.taxjustice.net.[]
  11. Inwiefern hierbei auch andere, familienähnliche kommunistisch wirtschaftende Solidargemeinschaften berücksichtigt wurden, wie z.B. Klöster, bleibt offen. Zur Logik dieser Gemeinschaften und Ökonomien siehe: 163-200.[]
  12. Vgl. ; zwar wurde die berühmte Regimetrias samt der Zuordnung realer Fälle viel kritisiert und alternative Vorschläge lanciert, jedoch hat sie sich im Großen und Ganzen doch als erstaunlich robust und zuverlässig bewährt; vgl. dazu: ; ; ; .[]
  13. Die Befriedung und Integration gelang zwar erst auf lange Sicht, aber irgendwann nach dem 2. Weltkrieg begriffen sich die erbitterten Klassengegner mehrheitlich doch als ‚Sozialpartner‘.[]
  14. Der in Europa zur Zeit der Etablierung und Expansion des National- und Wohlfahrtsstats virulente Konflikt mit christlichen Kirchen führte zudem zur Gründung diverser christlicher Parteien, wie z.B. der die deutsche Sozialpolitik stark prägenden katholischen Zentrumspartei.[]
  15. Im Übrigen stellen die Sozialbeiträge der Arbeitenden eigentlich einen Lohnbestandteil dar, der auch an diese direkt fließen könnte.[]
  16. Ein Grundsatz der Armenfürsorge war, nach dem individuellen Maß des Bedarfs und im Rahmen vorhandener Mittel ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ zu leisten. Daraus folgte ein hohes Maß an Willkür, wobei eine Unterscheidung in würdige Arme, die unverschuldet in Not gerieten und nicht arbeitsfähig waren (wie Kinder, Mütter und Alte) und ‚unwürdige‘, weil arbeitsfähige Arme leitend war; letztere wurden als ‚arbeitsscheu‘ oder ‚asozial‘ stigmatisiert, wobei auch die Internierung in Armen- oder Arbeitshäuser und nicht zuletzt der Verlust bürgerlicher Rechte drohte.[]
  17. Eine Ausnahme stellt die wesentlich von den Gewerkschaften organisierte Sicherung gegen Arbeitslosigkeit dar, was wiederum eine Ursache für die relativ hohen Organisationsgrade der Gewerkschaften darstellt.[]
  18. Eine Ausnahme bildet Österreich, wo noch häufiger sozialdemokratische Parteien regierten als christdemokratische, wobei beide Parteien häufig in großen Koalitionen kooperierten und sich die Macht auf fast allen staatlichen Ebenen nach Proporz aufteilten.[]
  19. Die zur obigen Tabelle Abweichung des Zeitbezugs der Daten ist angesichts marginaler Unterschiede zu vernachlässigen[]
  20. Ausführlich: .[]

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