Der Wohlfahrtsstaat hat nicht nur ein dichtes Netz sichernder, fürsorglicher, vorsorgender Versicherungen und Institutionen zur Gewährleistung sozialer Sicherheit, Erziehung, Bildung usw., quasi von der Wiege bis zur Bahre entwickelt,1, sondern auch enorme militärische und polizeiliche Sicherheitsapparate ausgebildet. Der Wohlfahrtsstaat fördert und steuert wachsende technische wie sozialen und politischen Risiken der kapitalistischen Industriegesellschaft. Dabei fungiert er nicht nur als Bändiger der kapitalistischen Bestie und als Klassenkompromiss, sondern er fördert oder züchtet diese auch (siehe dazu ausführlich hier). Dazu bleiben bis heute nicht nur anhaltende soziale Probleme, Risiken und Krisenherde, die zumindest zu einem großen Teil als direkte oder mittelbare Folge sozialer Ungleichheit und Klassenkämpfe in kapitalistischen Gesellschaften interpretiert werden können, als ständige Quelle von Unsicherheit, Angst und Krisen. Krisen zeigen sich insbesondere an Hunger und Armut, was in hohem Maße konfliktfördernd ist und durch die reichen Wohlfahrtsstaaten kaum grundsätzlich bekämpft wird.2
Die grundsätzlich kriseninduzierende Tendenz kapitalistischer Gesellschaften unterstreichen u.a. auch Analysen der Hintergründe des 1. Weltkriegs, wobei klassische marxistisch–imperialistische Theorien durchaus von empirischen Fakten gestützt werden.3 Bis heute zeigen sich die krisen- und konfliktträchtigen Züge der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft (Ungleichheit, Armut, Überakkumulation und Militarisierung), so dass mehr als fraglich ist, inwiefern die immer größer werdenden militärischen Gewaltarsenale, welche allen voran und mit großem Abstand die USA angehäuft haben (vgl. SIPRI), tatsächlich stabilisierend und friedenssichernd wirken (wie oft behauptet wird) oder nicht vielmehr krisenfördernd. Jedenfalls hat v.a. die USA als hegemoniale kapitalistische Leitmacht immer wieder eine Strategie des „bomb-and-build“ verfolgt, zuletzt im sog. ‚Krieg gegen den Terror‘ und im Irak-Krieg seit 2003, womit die These eines inneren Zusammenhangs zwischen global capitalism, global war and global crisis plausibel scheint.4
Gegen die These der kriseninduzierenden Politik kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten wird häufig eingewandt, dass diese als Demokratien in der Regel doch grundsätzlich friedlich seien, insbesondere gegenüber anderen Demokratien.5 Die hier nicht näher auszuführende These des democratic / capitalistic peace übersieht, dass es zahlreiche und gravierende Ausnahmen gibt, z.B. offene oder verdeckte militärische Interventionen von Seiten der USA im sog. kalten Krieg, die relativ unabhängig vom Regime der betroffenen Staaten erfolgten.6 Dazu kommt, dass auch die real existierenden Demokratien oft nicht gut funktionieren und mehr oder weniger unvollständig oder in einem mehr oder weniger defekten Zustand sind, z.B. (aber nicht nur) in den USA.7 Während Krisen von der linken politischen Seite eher als Folge kapitalistischer Widersprüche verstanden werden, betonen demgegenüber Liberale und Konservative schon lange die Gefahr der Selbstüberforderung oder selbst erzeugte Krise des Wohlfahrtsstaats durch dessen überzogene Ausweitung und eigendynamische Inflation von Ansprüchen.8
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Tendenz zur autoritären Technokratie? (Krisenpolitik… Kap. 6)
Fazit und Ausblick (Krisenpolitik… Kap. 7)
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Hintergrund von Krisenwahrnehmungen: Die Rolle von Wissenschaft und Medien (Krisenpolitik… Kap. 2)
Medien und die Konstruktion von Angst sowie ‚Krisen‘ (Krisenpolitik… Kap. 3)
Literatur
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- Vgl. z.B. Ewald, François. 1998. „Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf zu einer Philosophie der Vorbeugung“. Soziale Welt 49(1): 5–23.[↩]
- Vgl. Braithwaite, Alex, Niheer Dasandi, und David Hudson. 2016. „Does poverty cause conflict? Isolating the causal origins of the conflict trap – 2016“. CONFLICT MANAGEMENT AND PEACE SCIENCE 33(1): 45–66; Tollefsen, Andreas Forø. 2020. „Experienced Poverty and Local Conflict Violence“. Conflict Management and Peace Science 37(3): 323–49. doi:10.1177/0738894217741618; Nafziger, Wayne, und Juha Auvinen. 2002. „Economic Development, Inequality, War and State Violence“. World Development Vol. 30, No. 2: 153–63; Stewart, Frances. 2002. „Root causes of violent conflict in developing countries“. British Medical Journal Vol. 324, 9. February: 342–45.[↩]
- Vgl. Hauner, Thomas, Branko Milanovic, und Suresh Naidu. 2017. Inequality, Foreign Investment, and Imperialism. Rochester, NY: Social Science Research Network. SSRN Scholarly Paper. https://papers.ssrn.com/abstract=3089701 (22. Januar 2021). So war bei allen am Krieg beteiligten Großmächten eine extreme soziale Ungleichheit zu verzeichnen, d.h. auf der einen Seite mangelnder Konsum, auf der anderen Seite ein Überangebot an Kapital, das händeringend nach Verwertungsmöglichkeiten suchte. Dieses evozierte oder beschleunigte militärische Eroberungen und Investitionen in exterritoriale Kolonien, wo höhere und leichtere Profite als im Inland winkten, zumal diese durch militärische Interventionen abgesichert waren. Dieses führte aber zum verschärften Wettbewerb und zu Feindseligkeiten zwischen etablierten wie aufstrebenden Kolonial- und Großmächten und einer aufgeheizten Militarisierung, womit der Kriegsausbruch zumindest wahrscheinlich wurde, auch wenn noch andere kriegstreibende Faktoren und Ursachen im Spiel waren (vgl. ebd.).[↩]
- Vgl. Bieler, Andreas, und Adam David Morton. 2018. Global Capitalism, Global War, Global Crisis. Cambridge University Press, S. 250 ff. Bei mehr oder weniger allen US-Interventionen waren hegemoniale Machtinteressen und ökonomische Kalküle zumindest mit im Spiel, wobei sich die oft zur Rechtfertigung vorrangig angeführten Ziele der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten als ‚humanitäre Interventionen‘ bei der näheren Betrachtung meist nur insofern als stichhaltig erwiesen, als diese Ziele auch den hegemonialen und ökonomischen Interessen dienten; umgekehrt blieben entschiedene ‚humanitäre Interventionen‘ in der Regel immer dann aus, wenn keine gravierenden Machtinteressen im Spiel waren (vgl. Wood, Ruairidh. 2019. „Promoting democracy or pursuing hegemony? An analysis of U.S. involvement in the Middle East“. Journal of Global Faultlines 6(2): 166–85. doi:10.13169/jglobfaul.6.2.0166.[↩]
- Vgl. Hegre, Håvard. 2014. „Democracy and armed conflict“. Journal of Peace Research 51(2): 159–72.[↩]
- Vgl. O’Rourke, Lindsey A. 2018. Covert Regime Change: America’s Secret Cold War. Cornell University Press.[↩]
- Vgl. Hobson, Christopher. 2017. „Democratic Peace: Progress and Crisis“. Perspectives on Politics 15(3): 697–710. doi:10.1017/S1537592717000913.[↩]
- Vgl. Luhmann, Niklas. 1981. Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. Orig.-Ausg. München [u.a.]: Olzog; Schäfer, Armin. 2008. Krisentheorien der Demokratie: Unregierbarkeit, Spätkapitalismus und Postdemokratie (MPIfG Discussion Paper 08 / 10). Köln: Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (http://pubman.mpdl.mpg.de/).[↩]