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Der oberflächliche Anti-Antisemitismus

Es scheint chic, das Wort Antisemitismus in den Mund zu nehmen, seitdem die Terrororganisation Hamas im vergangenen Oktober ein Massaker an über tausend Israelis verübte. Der Begriff wird mit Plattitüden gefüllt und ein nichtsagendes „Nie wieder“ gerufen. An eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem vielschichtigen Phänomen und seinen inneren Widersprüchen wagt sich kaum jemand. Auch Kritik an der rechtsgerichteten Netanjahu-Regierung, die vorgibt, das Judentum zu vertreten, wird unter Vorbehalt geäußert, um ja nicht in Verdacht zu geraten, man sei Antisemit.

Von Roland Hofwiler

„Ich bringe den Antisemitismus augenblicklich auf der ganzen Welt zum Stillstand.“1 Geschrieben wurde dieser Satz am 19. Juni 1896. Der Träumer hieß Theodor Herzl. Der Begründer des politischen Zionismus war überzeugt, im Deutschen Reich gäbe es zu viele Kräfte, die eine Assimilation der jüdischen Mitbürger ablehnten und den „mittelalterlichen Antisemitismus“ weiter pflegen wollten. In sein Tagebuch schrieb er: „Dem deutschen Kaiser werde ich sagen: Lassen Sie uns ziehen. Wir sind Fremde, man lässt uns nicht im Volk aufgehen, wir können es auch nicht. Lassen Sie uns ziehen.“ 2 Ähnliche Ersuchen, den Juden entweder in Argentinien oder Palästina das Recht auf Landkauf zu genehmigen, richtete Herzl an dutzende weitere Staatsoberhäupter jener Zeit. Der zionistische Pionier glaubte ernsthaft: „Indem wir sie von uns befreien, lösen sie sich auch vom unheimlichen Druck des Mittelalters, der unerkannt in der Judenfrage noch auf ihnen lastet.“ 3 Herzl glaubte, mit dem „Auszug“ werde der Antisemitismus als judenfeindliche Ideologie überall ein Ende finden: „Die Völker werden froh aufatmen. Aber wir auch, wir besonders. Wir scheiden als geachtete Freunde.“4

Ein Jahrhundert danach kann man über Herzls naive und idealistische Vorstellung vom Ende des Antisemitismus nur den Kopf schütteln. Auch widersprach seine Idee vom Judenstaat dem Konzept des modernen Nationalstaates von der Gleichheit aller Bürger unabhängig von Glauben und Herkunft. Doch damit war er nicht allein. Die Nationenbildung geschah überall in Europa mit Geschichtsmythen. Erinnert sei etwa an den Streit einiger Humanisten im späten 15. Jahrhundert über die Frage, ob Karl der Große ein Deutscher oder ein Franzose sei. Diese Frage ist inzwischen dadurch entschärft, dass Karl zum ersten Europäer ernannt wurde und als Referenzgestalt des vereinigten Europa herhalten muss.

Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 mit schätzungsweise 1.200 ermordeten Zivilisten hat das Nationalbewusstsein Israels verändert. Der Anschlag reiht sich für die Mehrheit der Juden ein in die lange Geschichte an Pogromen, durch die die Auswanderung aus Europa nach Palästina als Ausweg begründet wurde. Die Gräuel des Holocaust stifteten ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, das die Nationenbildung entscheidend prägte. Wenig Gedanken machten sich die politisch Verantwortlichen über jene, die schon vor ihnen im Lande lebten. Die heutige Regierung unter Benjamin Netanjahu unterscheidet sich von allen Vorgängerregierungen seit 1945 darin, dass sie die palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland in einem Ausmaße unterdrückt, wie dies nie zuvor geschehen war Die Bürgerrechte werden von Jahr zu Jahr mehr und mehr beschnitten, über 900.000 meist rechtsnationalistische Siedler besetzen Land, das nach internationalen Verträgen palästinensischen Familien gehört. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, mit welcher Härte nun als Antwort auf den Hamas-Terror der Krieg im Gaza-Streifen ausgetragen wird. Netanjahu nimmt es in Kauf, dass bereits 25.000 Zivilisten bei der Militäroperation bis Mitte Januar 2024 ums Leben kamen und die reale Gefahr eine Ausweitung des Konflikts im Raum steht.

Doch ohne lange zu überlegen und ohne die Risiken einer eindeutigen Festlegung im Konflikt zu überdenken, beschworen die Politiker in Deutschland sofort – und beschwören noch immer – die uneingeschränkte Freundschaft mit Israel. Seit den ersten Bekundungen im Oktober hat sich an der Wortwahl nichts geändert: „Wir stehen fest an der Seite Israels und ich sage es in aller Deutlichkeit, dieser Tage darf es kein Aber geben.“ 5 So die Worte der Bundesministerin des Innern, Nancy Faeser, SPD, die des weiteren erklärt: „Als Gesellschaft müssen wir viel lauter werden, wir müssen uns dem Hass gegen Jüdinnen und Juden noch deutlicher entgegenstellen, denn zur Wahrheit gehört auch, der Terror der Hamas wurde noch am selben Tag auf unseren Straßen gefeiert.“ 6 Cem Özdemir, Landwirtschaftsminister von den Grünen mahnt, „der selektive Blick auf den Antisemitismus“ müsse aufhören, denn „wenn Antisemitismus von links kommt, dann heißt es, es sei keiner, sondern sogenannter antikolonialer Befreiungskampf, […] und wann Antisemitismus von Muslimen ausgeht, dann heißt es ritualmäßig, das hat nichts mit dem Islam zu tun, […] und von konservativer Seite wird gelegentlich ausschließlich von dem eingewanderten Antisemitismus gesprochen, als gäbe es im rechten Spektrum keinen.“ 7 Dietmar Bartsch, Die Linke, erinnert: „Das christliche Europa schuf den Judenhass und den Antisemitismus, Deutschland hat die Auslöschung von Juden industrialisiert, die Erinnerung an dieses singuläre Menschheitsverbrechen darf nie in Vergessenheit geraten. […] Der Antisemitismus war auch nach 1945 nicht weg, weder im Osten, weder im Westen, […] deswegen ist es ehrlich gesagt, eine Schande, nur von importierten Antisemitismus zu reden, Deutschland hat genug eigenen Antisemitismus.“ 8 Die Aufzählung der Antisemitismus-Verurteilungen könnte seitenlang fortgeführt werden.

Judenhasser sind stets die anderen

Je nach politischer Ausrichtung wird das Antisemitismus-Thema zu Ungunsten des politischen Gegners aufgerechnet und pauschalisiert. Manches deutsches Printmedium nutzt das Thema ebenfalls, um Stimmung gegen einzelne politische Bewegungen zu machen. So zitiert die Wochenzeitung «Die Zeit» die Sozialpsychologin Pia Lamberty mit den Worten: „Antisemitismus ist immer der Antisemitismus der anderen“ 9 um wenige Zeilen später eine einseitige Schuldzuweisung auszurufen. Den aktuellen „Boost“ an Judenhass ginge in Deutschland auf das Konto von Kritikern der Corona-Politk: „Es war der Beginn der Corona-Pandemie. Mit dem Virus entstand die Querdenken-Bewegung. […] Irgendwann fing die Bewegung an, sich gelbe Sterne mit dem Slogan ‚Ungeimpft‘ an die Funktionsjacken zu heften. Reihenweise wurde der Holocaust relativiert, sogar geleugnet. Es wurden Verschwörungsmythen gesponnen, die Jüdinnen und Juden die Schuld an der Pandemie gaben. Nach zwei Jahren Pandemie waren die antisemitischen Parolen längst in der Mitte der Querdenker-Bewegung angekommen, raus aus dem rechten Rand, rein ins bürgerliche. Die Pandemie ist unter Kontrolle, die Wut und der Hass sind geblieben.“ ((ebd.) In der «Süddeutschen Zeitung» legt Norbert Frei, Professor für Neueste Geschichte, sein Augenmerk hauptsächlich auf die „postkoloniale Terminologie“, die an Universitäten um sich greife und die „den Staat Israel als das Ergebnis eines ‚Siedlerkolonialismus‘ begreift und den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober zu einem Akt legitimer Widerstand gegen die Besatzungsmacht verklärt.“ 10 Diese beiden Beispiele stehen stellvertretend für unzählige Artikel, die in den vergangenen drei Monaten erschienen sind.

Verharmlosung antijüdischer Klischees im «ZDF»

Aus Sicht des Autors wagen sich die Medien nicht ersthaft an die Aufarbeitung all der Mythen mit all ihren Widersprüchen, die seit dem Mittelalter, meist unbewusst, in Deutschland kultiviert werden und das Fundament für den heutigen Judenhass befördern und verstärken. Erinnert sei an den «ZDF»-Podcast «Lanz und Precht», Folge 110 vom 13. Oktober 2023 unter dem Titel „Über Israel und den Gazastreifen“ wo beide das Klischee verbreiteten, das schon Herzl als eine „verhängnisvolle religionsgesetzliche Einrichtung des Mittelalters“ bezeichnete, „wonach den Juden das Zinseinnehmen gestattet, Andersgläubigen verboten war.“ 11 Bei «Lanz und Precht» wurde dieser Sachverhalt umgedreht: Die Religion erlaube gottesfürchtigen Juden nur solche Tätigkeiten wie das Zinseintreiben. 12 In der Entschuldigung des «ZDF» hieß es lapidar: „Anmerkung der Redaktion: In der ersten Fassung dieses Podcasts hatte Richard David Precht eine falsche Aussage getroffen, die antisemitische Klischees reproduzierte. Die Passage wurde aus dem Podcast entfernt. Richard David Precht entschuldigt sich für diese Aussage.“ 13 Eine Richtigstellung der „falschen Aussage“ fand das «ZDF» nicht für geboten, die Zuhörer wurden nicht aufgeklärt, wie gefährlich einst für Juden die Zinsgeschäfte waren. Bei Herzl kann man es nachlesen: „Die armen Juden waren in der Folge dessen die Blutegel, die das Blut in sich sogen. Aber so wenig der Egel das ausgesogene Blut zu eigenem Vorteil behält, so wenig war es bei den ‚Kammerknechten‘ des Mittelalters der Fall. Das erwucherte Geld wurde ihnen ja wieder abgepresst, teils in Steuern, teils durch angedrohte und hauptsächlich auch ausgeführte, blutrünstige Gewalttätigkeiten.“ 14  

Die Kontroverse zwischen Martin-Walser und Ignatz Bubis als Vorbild

Im palästinensischen Gazastreifen ist Monate nach der Kriegserklärung Israels an die Hamas kein Ende des Sterbens in Sicht. Immer mehr Bürger – und nicht nur AfD-Wähler – sagen sich, wir wollen mit dem Israel von heute nichts mehr zu tun haben: Politiker, lasst uns mit eurer Beteuerung, „Israel ist Teil der deutschen Staatsräson“ in Ruhe und auch mit eurer Moralkeule „Nie wieder ist Jetzt“. 15 Diese Reaktion ist verständlich und es bringt nichts, wenn sie in den Zeitungen kleingeschrieben wird. Das Thema Antisemitismus ist in sich widersprüchlicher als es viele Bürger wahrhaben wollen. Wer tiefer einsteigt, merkt schnell, ob Jude oder Goi, in wie viele Paradoxien man sich verstricken kann aus denen es kaum einen befriedigenden Ausweg gibt. Von Martin Walser, der im Juli vergangenen Jahres verstarb, stammt der Begriff „Gewissensdomestizierung“. Der Schriftsteller gebrauchte ihn in einem Streitgespräch am 14. Dezember 1998 mit dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis. Zwei Monate zuvor hatte Walser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen, wo er in seiner Dankesrede darauf hinwies, „er könne die Bilder des Holocaust nicht immer wieder sehen.“ 16 Bei dem Streitgespräch, das die «Frankfurter Allgemeine» organisierte, ging es hoch her. Bubis warf Walser eine Schlussstrichmentalität vor, weil dieser vom Wegschauen und Wegdenken in Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus spreche mit dem Argument, „wir werden uns nicht den nationalen Fragen zuwenden können, wenn wir Auschwitz nicht verdrängen.“ 17 Walser verwies darauf, er habe für seine Anregung aus allen politischen Lagern viel Zuspruch erhalten und konterte: „Also ich finde, so macht man Auschwitz zur Pflichtübung, das ist ein Auschwitz zur Einschüchterung. […] Es ist ein Sprachgebrauch entstanden, in dem Gewissen Vorschriften gemacht werden. […] Und das ist eine unerträgliche Vorschrift. Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie ich mich zu erinnern habe. […] Man kann nicht das Gewissen binden, das ist kontraproduktiv, das produziert Lippengebet.“ 18 Bubis blieb bei seiner Kritik, aufgrund der Popularität die Walser genieße, werden die Bürger nun sagen, „endlich Befreiung, bis jetzt durfte ich nichts sagen.“ 19 Es sei ihm bitter aufgestoßen, „dass man jungen Menschen das Gefühl gibt, ihr werdet beschuldigt, ihr werdet instrumentalisiert, wenn ihr hinschaut.“ 20 Die beiden Kontrahenten gingen unversöhnlich auseinander, Bubis nahm zwar seine Beschuldigung, Walser sei ein Brandstifter zurück um etwas milder zu konstatieren: „Wenn es Antisemiten gibt, dann ist es mir lieber, sie bekennen sich dazu, als dass sie mit diesem Hass im Bauch herumlaufen. Das ist ein Stück Normalität. […] All die, die sich bislang nicht getraut haben – die zwar so gedacht haben, aber keinen hatten, auf den sie sich berufen können – haben jetzt einen geistigen Vater.“ 21

Damals mischten sich weitere Akteure in die Debatte ein, wie etwa Klaus von Dohnanyi, einst Bürgermeister von Hamburg und Sohn eines von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpfers. Er schrieb: „Allerdings müssten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten Deutschen verhalten hätten, wenn nach 33 ‚nur‘ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären.“ 22

Bislang wagt es im deutschen Sprachraum kein etabliertes Medium, ähnlich provokante Fragen in Bezug zum heutigen Selbstverständnis von Jüdisch-Sein in Israel anzusprechen. Es fehlen Streitgespräche zwischen israelischen und palästinensischen Intellektuellen, die sich über Vorurteile und Klischees beim jeweils anderen Volk austauschen. Man ruht sich auf den Debattenseiten der Zeitungen aus mit Allgemeinplätzen und Warnungen: „Wie Gas verbreitet sich nun eine Atmosphäre der Gewalt und bestimmt den Alltag von Jüdinnen und Juden weltweit.“ 23 Oberflächlich bleibt auch Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung: „Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“, Sätze die Scholz einfach so von sich gab, ohne zu konkretisieren, was das im Ernstfall bedeuten könnte. 24 Würde Deutschland militärisch eingreifen, falls mehrere arabische Staaten Israel den Krieg erklären würden? Kein Wort dazu, wie Berlin sich beim Konflikt de-eskalierend einbringen könnte.

Kontroversen in der jüdischen Diaspora und in Israel werden verschwiegen

In der jüdischen Diaspora und in Israel werden dagegen längst schonungslose Debatten geführt und keine heiklen Aspekte ausgespart. Die israelische Tageszeitung «Haaretz» fragte schon früh, sind die Vergeltungsschläge der israelischen Armee wirklich verhältnismäßig und provozieren diese den Judenhass weltweit. Regelmäßig gibt das Blatt Friedensaktivisten die Gelegenheit, ihren Forderungen nach einem Aussetzen der Kriegshandlungen zu bekräftigen und Friedensverhandlungen mit der Hamas in Betracht zu ziehen. Redakteure von «Haaretz» bezichtigen einige Politiker der Netanjahu-Regierung deutlich als „Genocidaires“ (Völkermörder), die den Gaza-Streifen „vollständig säubern“ wollten und wenn sie könnten, alle Palästinenser vertreiben würden. 25 Ähnliche Stimmen sind aus der jüdischen Diaspora in den Vereinigten Staaten zu vernehmen. In einem Beitrag für die «New York Times» befürchtet der Kriegsveteran Benzion Sanders, israelische Soldaten würden bei ihrem Einsatz möglicherweise foltern und vergewaltigen. Solche Erfahrungen habe er bei seinem Gaza-Einsatz 2014 gemacht. 26 Der US-Sender «CNN» brachte mehrmals Streitgespräche mit Norman Finkelstein, dessen Buch „Holocaust-Industrie“ 2001 wochenlang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste stand und weltweite Diskussionen auslöste. Seine Thesen damals wie heute: Durch das Aussetzen einer Zweistaatenlösung und der jahrzehntelangen Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung sei es nicht verwunderlich, dass sich radikale Gruppen wie die Hamas entwickelten. Aus seiner Sicht fühlten sich viele Palästinenser wie in einem Ghetto gefangen. Finkelstein bleibt bei seinem Vergleich, dies erinnere ihn an den Judenaufstand im Warschauer Ghetto im April 1943, bei dem seine Eltern beteiligt waren. Frieden könne in Palästina nur erreicht werden, wenn Israel die Ghettosierung beende. Ohne Frieden sei ein weltweiter Antisemitismus moderner Prägung vorprogrammiert. 27

Der Fall Masha Gessen

Ähnlich wie Finkelstein äußerte sich nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober die jüdische Publizistin Masha Gessen, die sich als trans und nonbinär definiert, im Politmagazin «The New Yorker». 28 In deutschsprachigen Medien begann ein Shitstorm, die grüne Heinrich-Böll-Stiftung, die der amerikanischen Autorin im Dezember den Hannah-Arendt-Preis verleihen wollte, zog diesen zurück. Die «taz» kommentierte, Gessens Text sei problematisch, da er „viele Assoziationsräume öffnet“. 29 Die «Süddeutsche Zeitung» wirft der Jüdin vor, sie bediene sich einer „wohlfeilen, effekthascherischen Rhetorik“ und könne ihre „diffusen, bisweilen nur widersprüchlichen Äußerungen“ nicht begründen. 30 Was Gessen wirklich sagen wollte, kann aus keinem der Zeitungsartikel entnommen werden. Der Autorin wohlfeiles Verhalten vorzuwerfen und das Öffnen antisemitischer Assoziationen ist plump und kontraproduktiv. Solange die Feigheit vorherrscht, sich in keine schonungslose Auseinandersetzung mit der Netanjahu-Politik einzulassen, wird der derzeitige Israelhass kaum geschmälert und dem anschwellenden Antisemitismus freien Lauf gelassen. Am dritten Januar-Wochenende diesen Jahres konnte man den Eindruck gewinnen, das Thema Antisemitismus hat sich in Luft aufgelöst. Hunderttausende gingen in dutzenden Städten auf die Straßen um gegen das Erstarken der AfD ein Zeichen zu setzen und „Gesicht zeigen“, wie es der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil forderte. Es ging um deren Intoleranz gegenüber Einwanderer und Phantasien einer Remigration, die einige AfD-Politiker äußerten. Kanzler Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock waren sich nicht zu schade, einen Demonstrationszug in Potsdam anzuführen. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Regierung mobilisierte die Bürger gegen eine lästige Partei. Sollte es nicht umgekehrt sein, die Bürger machen der Regierung Beine und fragen nach der Mitschuld am Erstarken der AfD. Das Thema Antisemitismus scheint nun zumindest vom Tisch, darüber scheinen alle politischen Lager, von links bis rechts, froh zu sein. Denn alle wissen, eine neue Wehrmacht steht nicht vor der Tür und eine Deportation von Bürgern mit Migrationshintergrund bleibt ein Hirngespinst. Der Kampf um Remigration ist eine Spiegelfechterei.

Fußnoten
  1. Theodor Herzl, Zionistisches Tagebuch, Zweiter Band, Berlin, Propyläen, 1983, S. 200[]
  2. 2 ebd. S. 61 []
  3. 3 ebd. S. 201 []
  4. 4 ebd. S.201[]
  5. Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern, Bundestagsdebatte zum Schutz jüdischen Lebens in Deutschland, Berlin, Phoenix-TV live, 9.11.2023, 9:09[]
  6. ebd.[]
  7. ebd. 9.11.2023, 9:23[]
  8. ebd. 9.11.2023, 9:43[]
  9. Christian Vooren, Hass auf Juden ist ein urdeutsches Problem, Hamburg, Zeit-online, 5.11.2023 https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-11/antisemitismus-corona-pandemie-querdenker-gesellschaftliche-mitte?utm_source=pocket-newtab-de-de[]
  10. Norbert Frei, Von Gestern, München, Süddeutsche Zeitung, Nr. 260, 11.11.2023, S. 6[]
  11. Theodor Herzl, Zionistisches Tagebuch, Erster Band, Berlin, Propyläen, 1983, S. 612[]
  12. Katastrophen und Philosophen – wenn Krieg zur Unterhaltung wird, extra3, Hamburg,  NDR, 19.10.2023, Position  10:30 min         https://www.youtube.com/watch?v=U7BwBBECjKI[]
  13. Zdf, Shownotes, https://lanz-precht.podigee.io/112-ausgabe-110-uber-israel-und-den-gazastreifen[]
  14. siehe Fußnote 12[]
  15. siehe Fußnote 5[]
  16. Frank Schirrmacher, Wir brauchen eine neue Sprache für die Erinnerung, München, Blessing, 2014, S. 233[]
  17. ebd. S 239[]
  18. ebd S. 243-246[]
  19. ebd S.244[]
  20. ebd, S. 237[]
  21. ebd. S. 266-267[]
  22. Karsten Luttmer, Die Walser-Bubis-Kontroverse, 5. Oktober 2004, https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-walser-bubis-kontroverse/[]
  23. Sasha Marianna Salzmann, Eine unvollständige Formel, Süddeutsche Zeitung, 5.1.2023, S.6[]
  24. William Glucroft, Bonn, Deutsche Welle, https://www.dw.com/de/hamas-terror-gegen-israel-was-bedeutet-deutschlands-staatsr%C3%A4son/a-67107688[]
  25. Haaretz, 6.1.2023, https://www.haaretz.com/israel-news/2024-01-05/ty-article-opinion/.premium/israel-isnt-committing-a-genocide-but-it-has-genocidaires/0000018c-d643-daf6-a5df-d77fccc00000[]
  26. New York Times, 28.10.2023, https://www.nytimes.com/2023/10/28/opinion/international-world/gaza-idf-israel-veterans.html[]
  27. Piers Morgan vs Norman Finkelstein On Israel and Palestine, CNN, 23.11.2023 https://www.youtube.com/watch?v=I_Sh-ERypMA   und Norman Finkelstein vs Alan Dershowitz On Israel-Palestine War, CNN, 13.12.2023  https://www.youtube.com/watch?v=uHqs15gOv4k[]
  28. Masha Gessen, The Shadow of  the Holocaust, The New Yorker, 9.12.2023, https://www.newyorker.com/news/the-weekend-essay/in-the-shadow-of-the-holocaust[]
  29. Dissens als Tugend gescheitert, taz, 19.12.2023, https://taz.de/Streit-mit-Hannah-Arendt-Preistraegerin/!5980783/[]
  30. Alexander Estis, Man wird ja wohl noch vergleichen dürfen, Süddeutsche Zeitung, 29.12.2023, S.9.[]

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