Zum Inhalt springen

Der ‚Wohlfahrtsstaat‘ als Krisenmanager (Krisenpolitik… Kap. 4)

Der Wohlfahrtsstaat hat nicht nur ein dichtes Netz sichernder, fürsorglicher, vorsorgender Versicherungen und Institutionen zur Gewährleistung sozialer Sicherheit, Erziehung, Bildung usw., quasi von der Wiege bis zur Bahre (vgl. ) entwickelt, sondern auch enorme militärische und polizeiliche Sicherheitsapparate ausgebildet. Der Wohlfahrtsstaat ‚managed‘ die wachsenden technischen wie sozialen und politischen Risiken der kapitalistischen Industriegesellschaft. Dabei fungiert er nicht nur als ‚Klassenkompromiss‘, indem er die ‚kapitalistische Bestie‘ nicht nur einhegt und ‚bändigt‘, sondern er züchtet dieses erst (siehe dazu ausführlich hier). So bleiben bis heute nicht nur anhaltende soziale Probleme, Risiken und Krisenherde, die zumindest zu einem großen Teil als direkte oder mittelbare Folge sozialer Ungleichheit und Klassenkämpfe in kapitalistischen Gesellschaften interpretiert werden können und eine ständige Quelle von Unsicherheit, Angst und Krisen darstellen. Dieses Krisenpotential zeigt sich insbesondere an Hunger und Armut, was in hohem Maße konfliktfördernd ist (vgl. ; ; ; ).1

Die grundsätzlich kriseninduzierende Tendenz kapitalistischer Gesellschaften unterstreichen z.B. Analysen der Hintergründe des 1. Weltkriegs, wobei klassische marxistischimperialistische Theorien durchaus von empirischen Fakten gestützt werden (vgl. ).2Bis heute zeigen sich die krisen- und konfliktträchtigen Züge der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft (Ungleichheit, Unterkonsumption, Überakkumulation und Militarisierung), so dass mehr als fraglich ist, inwiefern die immer größer werdenden militärischen Gewaltarsenale, welche allen voran und mit großem Abstand die USA angehäuft haben (vgl. SIPRI), tatsächlich stabilisierend und friedenssichernd wirken (wie meist behauptet wird) oder nicht vielmehr krisenfördernd. Jedenfalls hat v.a. die USA als hegemoniale kapitalistische Leitmacht immer wieder eine Strategie des ‚bomb-and-build‘ verfolgt, zuletzt im sog. ‚Krieg gegen den Terror‘ und im Irak-Krieg seit 2003, so dass die These eines inneren Zusammenhangs zwischen global capitalism, global war and global crisis (vgl. , 250 ff.) nicht leicht von der Hand zu weisen ist.3

Gegen die These der kriseninduzierenden Politik kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten wird häufig eingewandt, dass diese als Demokratien in der Regel doch grundsätzlich friedfertig und sozial seien, insbesondere gegenüber anderen Demokratien (). Die hier nicht näher auszuführende These des ‚democratic oder capitalistic peace‘ übersieht aber, dass es zahlreiche und gravierende Ausnahmen gibt, z.B. offene oder verdeckte militärische Interventionen von Seiten der USA im sog. ‚kalten Krieg‘, die relativ unabhängig vom Regimestatus der betroffenen Staaten erfolgten (vgl. ). Dazu kommt, dass auch die ‚real existierenden‘ Demokratien oft nicht gut funktionieren und mehr oder weniger unvollständig oder in einem mehr oder weniger defekten Zustand sind, wie z.B. wiederum (aber nicht nur) in den USA (vgl. ). Während von linker Seite Krisen eher als Folge kapitalistischer Widersprüche verstanden werden, betonen auf der anderen Seite Liberal-Konservative schon lange die Gefahr der ‚Selbstüberforderung‘ oder selbst erzeugter Krisen des Wohlfahrtsstaats durch eine ‚Inflation‘ von Ansprüchen, für die es keine Grenzen oder ‚Stopregeln‘ gebe (; ).

Weiter zu: Legitimation des Ausnahmezustands (Krisenpolitik… Kap. 5)
Tendenz zur autoritären Technokratie? (Krisenpolitik… Kap. 6)
Fazit und Ausblick (Krisenpolitik… Kap. 7)
Zurück zu Teil 1 und zur Übersicht
Hintergrund von Krisenwahrnehmungen: Die Rolle von Wissenschaft und Medien (Krisenpolitik… Kap. 2)
Medien und die Konstruktion von Angst sowie ‚Krisen‘ (Krisenpolitik… Kap. 3)

Literatur

  1. Es wird geschätzt, dass über 600 Mio. Menschen in extremer Einkommensarmut mit weniger als 1,90 $/Tag und ca. 1,3 Mrd. Menschen in multimensionaler Armut leben (vgl. Human Development Report 2019, S. 7; übrigens findet sich dort keine Zahl der Hungernden mehr und Hunger kommt als Stichwort nur vier Mal vor). Angesichts dessen richtet z.B. Jean Ziegler eine an die reichen Staaten gerichtete Anklage ‚Wir lassen sie verhungern‚ und er spricht diesbezüglich von ‚Mord‚. Denn die zur Lösung des Problems extremer Armut erforderlichen Summen sozialer Mindestsicherung wären angesichts des exorbitanten, hoch konzentrierten Reichtums marginal (vgl. ; www.oxfam.org), zumal die Wohlfahrstsstaaten diverse Steuer-Oasen oder Sümpfe der ‚Steuerflucht‘ hegen und pflegen oder nicht trocken legen; http://gabriel-zucman.eu/files/TWZ2018Slides.pdf; https://oxfamilibrary.openrepository.com/handle/10546/620159, https://en.wikipedia.org/wiki/Tax_haven; https://www.taxjustice.net. Zudem tendieren die Steuersätze auf Kapitaleinkünfte und Spitzeneinkommen in den Wohlfahrtsstaaten seit ca. 1980 nur noch nach unten, in einer Art Unterbietungswettlauf (; ), was die Ungleichheit und Krisenwahrnehmungen auch in den Wohlfahrtsstaaten verstärkt.[]
  2. So war bei allen kriegführenden Ländern eine extreme soziale Ungleichheit zu verzeichnen, d.h. auf der einen Seite mangelnder Konsum, auf der anderen Seite ein Überangebot an konkurrierendem Kapital, das händeringend nach Verwertungsmöglichkeiten suchte (als Überakkumulations- oder Unterkonsumptionskrise). Dieses evozierte oder beschleunigte militärische Eroberungen und Investitionen in exterritoriale ‚Kolonien‘, wo höhere und leichtere Profite als im Inland winkten, zumal diese durch militärische Interventionen abgesichert waren. Dieses führte aber zum verschärften Wettbewerb und zu Feindseligkeiten zwischen etablierten wie aufstrebenden Kolonial- und Großmächten und einer aufgeheizten Militarisierung, womit der Kriegsausbruch zumindest wahrscheinlich wurde, auch wenn noch andere kriegstreibende Faktoren und Ursachen im Spiel waren (vgl. ebd.).[]
  3. Bei mehr oder weniger allen US-Interventionen waren hegemoniale Machtinteressen und ökonomische Kalküle zumindest mit im Spiel, wobei sich die oft zur Rechtfertigung vorrangig angeführten Ziele der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten als ‚humanitäre Interventionen‘ bei der näheren Betrachtung nur insofern als stichhaltig erwiesen, indem diese Ziele auch den hegemonialen und ökonomischen Interessen dienten; umgekehrt blieben entschiedene ‚humanitäre Interventionen‘ in der Regel immer dann aus, wenn keine gravierenden Machtinteressen im Spiel waren (vgl. ).[]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert