Die Rolle der Wissenschaft
Den heute üblichen Krisenbegriff hat zunächst die Medizin geprägt und den aus dem Griechischen stammenden Begriff Krisis (für Unterscheidung, Meinung, Urteil oder Entscheidung) seit dem 14. Jahrhundert zur Frage der Entscheidung über Leben oder Tod zugespitzt, was bis zum 19. Jahrhundert ins Militärische und in Staatstheorien überging, zumal der Staat oft in Analogie zum menschlichen Körper aufgefasst wurde (vgl. ). Im 20. Jahrhundert breiteten sich dann gesellschaftliche Krisenwahrnehmungen quasi endemisch aus und es gibt kaum noch einen Bereich, in dem nicht schwere soziale Probleme oder Krisen ausgemacht wurden: Von A wie Arbeit bis Z wie Zusammenhalt, alles scheint in der Krise, ob Wirtschaft und Finanzen, Demokratie und Staat, Bevölkerung, Familie sowie nicht zuletzt Natur und Klima (vgl. ).
Abbildung: Häufigkeit des Vorkommens des Begriffs „Crisis“ in Google-Books (1900-2019)
Als einer der ersten und wirkmächtigsten ‚Krisentheoretiker‘ vertrat Karl Marx die These einer zwangsläufig krisenhaften Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, womit er wesentlich zu Krisenwahrnehmungen im 20. Jahrhundert beitrug. Aber auch ohne Marx waren und sind soziale Probleme und Krisen für die Sozialwissenschaft quasi tägliches Brot oder ihr ‚Kerngeschäft‘, so dass z.B. von der Soziologie als ‚Krisenwissenschaft‘ gesprochen wurde (vgl. Sewing, ). Dabei lässt sich ein Soziales Problem ganz allgemein als Differenz zwischen einem gewünschten ‚Soll‘ und dem realen ‚Ist‘ definieren, d.h. die Sozialwissenschaften (wie auch Medien) überwachen soziale Normen und deren Einhaltung oder Abweichungen in ‚modernen‘, sich dynamisch wandelnden, anonymen, marktgesteuerten, arbeitsteiligen Gesellschaften, gegen die u.a. von Durkheim aufgezeigten Gefahren der Anomie‘ oder Desintegration.
Neben der Diagnose und Analyse des Hintergrunds sozialer Probleme und Krisen werden von den sozialwissenschaftlichen Krisentheorien in der Regel zugleich vermeintlich hilfreiche Therapien oder Rezepte angeboten, wie z.B. von Marx & Engels der Kommunismus, der in einem ‚letzten Gefecht‘ erkämpft werden sollte, um die ungleiche Kapitalakkumulation sowie krisenproduzierende Klassenkämpfe zu überwinden und eine klassenlose, endgültig friedliche Gesellschaft herzustellen. Bekanntlich kam es anders, die bis heute anhaltenden Kämpfe (auch wenn nicht alle als Klassenkämpfe interpretiert werden können) waren und sind sehr blutig und das Projekt Kommunismus entwickelte sich weniger paradiesisch als erhofft, bis dieser sogar seit 1989/90 selbst in einen kritischen oder letalen Zustand überging.1 Ungeachtet dessen war und ist es aber nicht nur bei Marx eine typische intellektuelle Strategie, die komplexe Wirklichkeit in Krisenszenarien zu dramatisieren, um soziale Probleme oder Krisen zu identifizieren, zu mahnen und zu kollektiven Handlungen zu motivieren (vgl. , S. 33).
Wenn ‚Krisen‘ diagnostiziert oder diskutiert werden, die gesamtgesellschaftlich und politisch relevant erscheinen, verbreiten sich angesichts der damit assoziierten existenzbedrohenden Fragen von Leben und Tod grundsätzlich Gefühle von Unsicherheit und Angst, es entsteht ein enormer Zeit- und Handlungsdruck, d.h. eine Konzentration und Verengung des Blicks auf das existentiell Notwendige, Wesentliche und Evidente, was aber auch bis zu panischen Reaktionen reicht. Entsprechend erfahren in Krisensituationen warnende Akteure und bedrohliche Informationen zwangsläufig mehr öffentliche Aufmerksamkeit, was auch ein Grund für die Zunahme der mahnenden Kassandrarufe darstellt. Inwieweit die von den modernen wissenschaftlichen und intellektuellen ‚Auguren‘ und ‚Propheten‘ aufgezeigten Krisenszenarien dann aber tatsächlich eintreten und ob die verordneten ‚Rezepte‘ oder ‚bitteren Pillen‘ am Ende nötig oder hilfreich waren, ist ex post meist nicht mehr objektiv zu bewerten und interessiert auch nur noch als wissenschaftliche und historische Frage. So zeigte sich z.B. auch der Kapitalismus trotz aller Prophezeiungen und Krisen zumindest bisher als äußerst robust und hat sich seit 1990 (nach der Transformation ‚real-sozialistischer‘ Konkurrenzregime) sogar mehr oder weniger global durchgesetzt, immer weitere Regionen und Bereiche der Kapital- und Marktlogik unterwerfen und aus jeder Krise und durch fundamentale Kritik gestärkt hervorgehend (vgl. ). Fehleinschätzungen wissenschaftlicher Krisenanalysen lassen sich aber beliebig anführen. Z.B. kursieren seit Jahrzehnten erschreckende Prognosen einer ‚demographischen Krise‘ als Alterung und Rückgang der Bevölkerung, womit u.a. der Ab- und Umbau der Rentenversicherung seit 2002 begründet wurde. Indes stieg entgegen aller Prognosen bis heute die Zahl der Bevölkerung aufgrund der unterschätzten Zuwanderung immer weiter an; das Geschäft mit dem ‚demographischen Wandel (oder Schwindel)‘ gedeiht aber unverdrossen weiter (inzwischen liegt beim Statistischen Bundesamt die 14. koordinierte Bevölkerungsprognose vor, ohne dass die ‚Fehlprognosen‘ öffentlich groß diskutiert wird. Wie gewagt solche weitreichenden Krisen- und Zukunftsszenarien sind, offenbart ein einfaches Gedankenexperiment zu den demographischen Prognosen: Würde die gängige ‚Vorausberechnung‘ der Bevölkerungsentwicklung um gut 100 Jahre zurückverlegt und wären damals vergleichbare Szenarien bis 1950 oder 1960 statt 2050/60 angestellt worden, wären diese schon durch den 1. Weltkrieg ad absurdum geführt worden. Das heißt, dass die wissenschaftliche Prognostik selbst als soziales Phänomen analysiert werden sollte und als technokratische Hybris, zumal sie politisch meist eine fragwürdige Rolle einnimt, weil sich hierbei Wissenschaft, Politikberatung und ökonomische Interessen zu einer eher trüben Brühe vermischen.
Neben der wachsenden sozialen und politischen Aufmerksamkeit für Soziale Probleme, Risiken und Krisen haben aber, v.a. infolge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und Wohlstands, technisch induzierte Risiken und daraus erwachsende Anforderungen des ‚Risikomanagemetns‘ durchaus zugenommen, wobei diese, z.B. bei der Atomenergie, regional wie zeitlich zunehmend entgrenzt und kaum noch beherrschbar scheinen (so zeigen u.a. Katastrophen wie Tschernobyl, Fukushima oder das Problem des ewig strahlenden und zu überwachenden Atommülls), weshalb Ulrich Beck () eine ‚Risikogesellschaft‚ konstatierte. Mit der Ausweitung von Risikotechnologien einerseits, wachsenden Sicherheitstechniken und Möglichkeiten des Risikomanagements andererseits stelllen sich aber politisch brisante, „neuartige Herausforderungen an die Demokratie“, so Ulrich Beck, mit der Gefahr eines ‚legitimen Totalitarismus der Gefahrenabwehr‘, als wissenschaftlich-technischer Autoritarismus, weil es nicht einfach ist, angesichts sich abzeichnender globaler Gefahren überhaupt noch politische Alternativen aufzuzeigen (, S. 106) Bereits 1977 hatte Robert Jungk in seinem Buch ‚Der Atomstaat‚ auf solche gesellschaftlichen und politischen Folgen der Atomenergie hingewiesen, die er neben den unmittelbaren Gefahren der Radioaktivität vor allem in der enormen Ausweitung der Sicherheitsapparate und in Einbußen bürgerlicher Freiheiten sah. In einer ähnlichen Stoßrichtung, ja noch weitergehender, sieht Furedi eine Ausweitung von Ängsten in einem Jahrhundert oder einer „Kultur der Angst„, die insbesondere auch den persönlichen, alltäglichen Bereich ergreift:
„Fear is not simply associated with high-profile catastrophic threats such as terrorist attacks, global warming, AIDS or a potential flu pandemic; rather, as many academics have pointed out, there are also the ‘quiet fears’ of everyday life. … Today’s free-floating fear is sustained by a culture that is anxious about change and uncertainty, and which continually anticipates the worst possible outcome. This ‘culture of fear’, as I and others have called it, tends to see human experience and endeavour as a potential risk to our safety. Consequently, every conceivable experience has been transformed into a risk to be managed.“
().
Ein Hintergrund der zunehmenden Wahrnehmung von Risiken, Unsicherheit und Angst sind aber auch die enorm gestiegenen Erwartungen an die Sicherheit, Wohlfahrt und Gesundheit oder das Glück von Bürgerinnen und Bürgern, d.h mit dem wachsenden Wohlstand und Möglichkeiten wuchs auch eine angsterzeugende Fallhöhe und Sorge um Risiken, Sicherheit oder Wohlfahrtsverluste. Im 20. Jahrhundert wuchsen nicht nur die gesellschaftlich produzierten Risiken, sondern auch die technischen wie ökonomischen sowie politischen Möglichkeiten zur Gewährleistung von Sicherheit und Wohlfahrt, wobei vor allem der ‚Sozial- oder Wohlfahrtsstaat‚ zum allgegenwärtigen Krisenmanager wurde, der als kapitalistischer Staat aber immer zugleich (direkt oder indirekt) auch ein Krisen- und Angsterzeuger ist.
Weiter zu: Medien und die Konstruktion von Angst sowie ‚Krisen‘ (Krisenpolitik… Kap. 3)
Der kapitalistische ‚Wohlfahrtsstaat‘ als Krisenmanager (Krisenpolitik… Kap. 4)
Legitimation des Ausnahmezustands (Krisenpolitik… Kap. 5)
Tendenz zur autoritären Technokratie? (Krisenpolitik… Kap. 6)
Fazit und Ausblick (Krisenpolitik… Kap. 7)
Zurück (Krisenpolitik… Kap. 1)
Literatur
- Dass der Kommunismus erledigt sei, kann indes nicht unbedingt konstatiert werden, denn im Kleinen bestehen kommunistische Gruppen ja vielfach erfolgreich, z.B. in gemeinschaftlich wirtschaftenden und entscheidenden Kooperativen und auch jede Familie agiert im ökonomischen Sinn mehr oder weniger kommunistisch; vgl. die Diskussion um ‚Commons‘ oder Ökonomie der Allmende, s. u.a. [↩]