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Zur einäugigen, verzerrten Sicht der Leipziger Autoritarismus-Studie

Jüngst sorgte die ‚Leipziger Autoritarismus-Studie‘ wieder für große Aufmerksamkeit mit der These, dass rechts-autoritäre Einstellungen in Deutschland bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen und eine große Gefahr für die Demokratie darstellen.1 Die Studie zeigt aber ein einseitiges und verzerrtes Bild des Autoritarismus: Zum einen wird nur nach rechts geschaut, linke, technokratische oder religiös motivierte autoritäre Haltungen bleiben unbeachtet. Dazu sind die Interpretationen und Analysen zum ‚Rechts-Autoritarismus‘ selbst mitunter überspitzt und verzerrt. Vor allem wird der Hintergrund der verbreiteten politischen Frustration und wachsender Ressentiments hinsichtlich von Symptomen und Ursachen verkannt. Denn die von Decker u.a. beklagte ‚Verwahrlosung der Demokratie‘ geht nicht nur oder in erster Linie vom Volk aus, sondern von den herrschenden (akademischen) politischen Eliten und einer technokratisch-autoritär als ‚alternativlos‘ ausgegebenen Politik. Doch der Reihe nach, denn zunächst stellt sich die Frage, was Autoritarismus ist, welche Formen vorkommen und wie dieser festgestellt oder ‚gemessen‘ werden sollte, bevor die Ergebnisse der Studie näher beleuchtet werden.

Was ist Autoritarismus und welche Arten gibt es?

Autoritarismus bedeutet zum einen eine autokratische, diktatorische Herrschaftsform, mit der Pflicht zur Unterordnung, Anpassung und harten Strafen gegen Abweichungen von Regeln oder Anordnungen. Dem steht eine freiheitlich-demokratische Ordnung gegenüber, mit gleichen Rechten und Mitbestimmung im pluralen politischen Wettbewerb, Wahlen und einer Aufteilung sowie Kontrolle von Macht.2. Dem entsprechen eher autoritäre oder liberale Einstellungstypen, wobei sich Autoritarismus in drei ‚Teildimensionen‘ zeigt:

  1. Unterordnung gegenüber Hierarchien (Unterwerfung),
  2. Konformität zu Normen, Werten und Moralvorstellungen (Konventionalismus) und
  3. Befürwortung strenger sozialer Kontrollen und Strafen gegenüber Abweichungen (Aggression).3

Autoritäre Haltungen können auf unterschiedlichen Ideologien beruhen, die Forschung seit Adorno/Horkheimer nahm aber fast nur den Rechts-Autoritarismus in den Blick — wie auch die Leipziger Studie. Manche behaupten sogar, autoritäre Tendenzen der politischen Linken seien irrelevant 4 oder ein Mythos.5 Links-Autoritarismus ist in der Forschung nur ansatzweise ein Thema.6 Dazu sollte der neuartige technokratische Autoritarismus (der gar nicht als solcher erkannt wird) und der traditionelle religiöse Autoritarismus nicht übersehen werden (z.B. muslimischer, aber auch christlicher, der in Bezug auf Antisemitismus und Rassismus eine oft übersehene, zentrale Rolle spielt).7

Was ist mit linkem und technokratischem Autoritarismus?

Autoritäre Haltungen (Unterwerfung, Anpassung und Aggressionen gegen Abweichungen) gibt es auch bei der politischen Linken, nicht nur im ‚real existierenden Sozialismus‘. Neben gewaltsamen Angriffen auf rechtsgerichtete Politiker oder Einrichtungen, verhindern oder stören radikale Linke häufig öffentliche Veranstaltungen und den freien Meinungsaustausch, wobei sich besonders an Hochschulen eine ‚Cancel Culture‘ unter den Zeichen des vermeintlich einzig ‚Wahren und Guten‘ ausgebreitet hat.8 Diese Tendenz wird durch ständige Krisenwahrnehmungen verstärkt, so dass sich ein technokratischer Autoritarismus Bahn brach, der in Appellen von „there is no alternative“ oder „follow the Science“ zum Ausdruck kommt und in der ‚Corona-Krise‘ allgegenwärtig wurde.9 In diesem jüngsten Ausnahmezustand wuchsen autoritäre Haltungen quasi endemisch, so dass sämtliche abweichende Ansichten auf breiter Front reflexartig diffamiert und zensiert wurden, selbst von seriösen Wissenschaftlern, die immer häufiger sogar aus beruflichen Positionen entfernt wurden.10 In der ‚Corona-Krise‘ waren es besonders Linke, die eine erschreckende Intoleranz, Hass und Verachtung gegenüber allen zeigten, welche die autoritären ‚Anti-Corona-Maßnahmen‘ kritisierten oder ablehnten.11 Im wachsenden autoritären Furor und Zensureifer12 schlug sogar jüngst ein Journalist im öffentlich-rechtlichen Rundfunk allen Ernstes vor, Meinungsfreiheit als Unwort des Jahres zu nominieren, wozu eine „Philosophin“ attestierte, dies sei ein „rechtspopulistischer Kampfbegriff“. 13

Sind ‚Libertäre‘ ‚Autoritäre‘ und ist ‚Verschwörungsdenken‘ rechts-autoritär?

Zum Ausblenden des Links-Autoritarismus durch die Leipziger Studie passen die folgenden abwegigen Konstrukte und Analysen. So werden die für Freiheit und gegen autoritäre Maßnahmen im Corona-Ausnahmezustand protestierenden Menschen als „libertäre Autoritäre“ umgedeutet und diffamiert. Mit der in sich widersprüchlichen Bezeichnung wird aber die logische Polarität von liberal und autoritär aufgelöst oder verquickt (von Orwell als ‚Zwiedenken‘ bezeichnet). Tatsächlich lehnten erwartungsgemäß libertär eingestellte Menschen die autoritären, freiheitseinschränkenden staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen am stärksten ab.14. Diese Libertären zu Autoritären umzudeuten, weil sie gegen die unter der falschen Flagge von Rücksichtnahme und Solidarität segelnden autoritären ‘Maßnahmen’ ablehnten (die übertrieben, wirkungslos und schädlich waren) ist aber absurd.15 Dabei soll gar nicht in Abrede gestellt werden, dass unter den Protestierenden gegen die Anti-Corona-Maßnahmen auch einige Rechts-Autoritäre oder esoterisch ‚Verstrahlte‘ waren. Die Mehrheit der Protestierenden zeigte indes linke oder mittig-linke sowie radikaldemokratische Positionen.16 Im Übrigen kommt es selbstverständlich vor, dass eine Person, die allgemein liberale Haltungen zeigt, bei gewissen Themen auch autoritäre Ansichten vertritt. Eine Auflösung oder Verquickung der gegensätzlichen Haltungstypen führt aber in die Irre.

Ähnliches gilt für die modische Allzweckwaffe „Verschwörungsmentalität„, was auch in der Leipziger Studie primär mit rechts-autoritären Haltungen assoziiert wird. Das Konstrukt bleibt aber diffus, denn es gibt es Verschwörungsthesen aus allen politischen Spektren und neben abstrusen auch empirisch bestätigte (siehe z.B. die Verschwörung der US-Regierung Bush/Powell 2003 bzgl. Irakkrieg). Jedenfalls sind auch in Demokratien Verschwörungen möglich, wenn auch erschwert durch Machtkontrollen und Transparenz — sofern dieses funktioniert. Im Übrigen soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es einen gewissen Zusammenhang zwischen politischem Verdruss, Verschwörungsideen und Rechts-Autoritarismus gibt. Die Frage ist aber in welchem Ausmaß und was ist Symptom, was Wirkung in diesem komplizierten Gefüge? Das reflexartige Assoziieren von Verschwörungsannahmen als rechts-autoritär führt jedenfalls in die Irre und verrät selbst eine autoritäre Tendenz der Unterdrückung des freien Denkens.

Wie wird Autoritarismus festgestellt oder ‚gemessen‘?

Während autoritäres Verhalten beobachtet werden kann, müssen die dem zugrunde liegenden Einstellungen durch Befragungen mittels Fragen, Aussagen oder ‚Items‘ ermittelt werden. Es können eher allgemeine Stimuli verwendet werden oder solche, die auf rechts- oder linksgerichteten, technokratischen oder religiös motivierten Autoritarismus zielen (z.B. Islamismus). Gängige Instrumente zielen aber nur auf den Rechts-Autoritarismus: So wird bei Decker u.a. die Zustimmung zur folgenden Aussage abgefragt: „Im nationalen Interesse ist unter bestimmten Umständen eine Diktatur die bessere Staatsform.“ (mit einer 5-stufigen Antwortskala von: (1) lehne völlig ab (2) lehne überwiegend ab, (3) stimme teils zu, teils nicht zu, (4) stimme überwiegend zu, (5) stimme voll und ganz zu). Dabei wird die mittlere ambivalente, unentschiedene Antwort ‚teils zustimmend, teils ablehnend‘ einseitig als „latente Zustimmung“ gewertet. Bei diesem Item könnten anstatt „im nationalem Interesse“ auch linke, technokratische oder religiöse ‚Stimuli‘ stehen, z.B. Zustimmung zur Diktatur im Interesse von Klima- oder Gesundheitsschutz usw. Ähnliches gilt für das dritte Item „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“, wobei auch die Bereitschaft getestet werden könnte, für den Klimaschutz oder anderes ein Einparteiensystem zu unterstützen. Entsprechend müsste auch die Kurzskala Autoritarismus (besser: Rechts-Autoritarismus) angepasst werden, die in der Leipziger Studie mit abgefragt wurde (allerdings unter dem seltsamen Begriff „Sadomasochismus“) und worauf hier nicht weiter eingegangen werden soll. Im Übrigen könnte so auch das von Costello et al. vorgelegte (verbesserungsbedürftige) Messinstrument zum Links-Autoritarismus weiterentwickelt werden, was hier auch nicht vertieft werden kann.17.

Zugespitzte, oft verzerrte Interpretationen

Es gibt kaum Zustimmung zu autoritären Herrschaftsformen

Die Hauptthese der Leipziger Studie ist, dass rechts-autoritäre Haltungen weit verbreitet seien bis in der Mitte der Gesellschaft, was schon im Titel zum Ausdruck kommt oder z.B. auf S. 51. Indes sind autokratische, demokratiefeindliche Haltungen selten: Über 90% der Antwortenden bejahen die Demokratie als Idee (S. 72), weniger als 5% bejahen, dass eine Diktatur die bessere Staatsform sei, über 80% lehnen dieses ab, trotz des Stimulus „unter bestimmten Umständen“. Ähnlich klar ist die Ablehnung eines „Führers“, der „mit starker Hand regiert“ (S. 36). Insgesamt haben in Deutschland nur 4,5% ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“ (im Jahr 2002 waren es noch knapp 10%) (S. 50). Auch unter den AfD-Wählenden lehnt die große Mehrheit die Aussagen zu einer rechts-autoritären Diktatur ab, auch wenn 16,9% dem eher oder voll zustimmen. Etwas weniger stark wird insgesamt die Aussage abgelehnt, dass Deutschland jetzt eine einzige starke Partei brauche, welche die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpere, was 61% der Antwortenden ablehnen. Dem stimmen 4,5% voll, 13,1% überwiegend zu und eine große Gruppe von 21,4% antwortet unentschieden oder ambivalent (S. 36). Dieses wird von Decker u.a. einseitig als „latente“ Zustimmung interpretiert und auf S. 186 wird irreführend zugespitzt: „2024 meinen knapp 39 % der Menschen in Deutschland, wir bräuchten eine einzige starke (völkische) Partei“.18 Vielleicht hätte klarer formuliert werden können, dass es „nur noch eine einzige Partei…“ geben sollte. Dazu ist die am Konsens orientierte politische Kultur der ‚Konkordanzdemokratie‘ zu berücksichtigen mit der Antipathie gegenüber politischen Parteien, die Entscheidungen gegen den mehrheitlichen Volkswillen hervorbringen oder blockieren, worauf zurückzukommen sein wird. Am Ende wird in der Leipziger Studie auch noch — gegen die erhobenen Daten — behauptet: „Der Anteil der Befürworter eines autokratischen politischen Systems hat somit signifikant zugenommen.“ (S. 186) Tatsächlich sind diese Anteile aber von 7,6% (2002) auf 3,2% (2024) gesunken (vgl. S. 45). Zusammengefasst zeigen die Daten jedenfalls keine Tendenz zur Unterstützung einer rechts-autoritären Diktatur in Deutschland.

Rechtsautoritäre Ressentiments: Zur Abgrenzung und zum Hintergrund

Die rechtsextreme Befürwortung einer autoritären Ordnung geht in der Regel mit nationalistischen, chauvinistischen, fremdenfeindlichen und rassistischen Ressentiments einher, wozu antisemitische, sozialdarwinistische oder auch sexistische Abwertungen kommen. Ich konzentriere mich im Folgenden auf fremdenfeindliche Ressentiments und Abwertungen, weil diese besonders weit verbreitet sind und als ‚Dreh- und Angelpunkt‘ rechts-autoritärer Tendenzen gelten oder als Ausgangspunkt einer rechts-autoritären Radikalisierung. Dabei zeigt sich aber in besonderem Maße eine schwierige Frage der Abgrenzung zwischen national-konservativen und rechtsautoritären Haltungen. Inwiefern ist z.B. die weit verbreitete Forderung eines Vorrangs der tradierten einheimischen, ‚indigenen‘ Kultur als rechtsautoritär oder rechtsextrem zu bewerten? Auch wird oft vergessen, dass jeder Nationalstaat kraft Definition privilegierte Rechte von Inländern vorsieht (z.B. bzgl. Aufenthalt, Arbeiten, Wählen) und eine implizite oder explizite Bevorzugung oder höhere Bewertung der einheimischen (indigenen) Sprache, Kultur und Volksgruppen (z.B. indem nur christliche Feiertage als allgemein verbindlich gelten). Dazu kommt als Hintergrund von Fremdenfeindlichkeit, dass die meist gering qualifizierten Einwandernden objektiv Konkurrenten um knappe Arbeitseinkommen, Wohnungen, sozialstaatliche Unterstützung und von Status sowie Macht sind, besonders für die unteren oder mittleren Klassen mit geringen Bildungsniveaus. Daraus können leicht Ressentiments entstehen, auch wenn sie dadurch nicht legitimiert werden können. Weiter muss berücksichtigt werden, dass Einwandernde aus fremden Kulturen die hierzulande geltenden Sitten und Gesetze (v.a. bzgl. der Gleichheit der Geschlechter) oft ablehnen oder bekämpfen, auch gewaltsam. All dieses schürt oder stärkt die Ängste vor ‚Fremden‘ und Ressentiments. Der Zusammenhang zwischen Angst, Ressentiments oder autoritären Anwandlungen ist hinreichend belegt, wobei es oft erschreckend wenig Stimuli braucht, um Menschen gegen andere, als konkurrierend, bedrohlich oder feindlich markierte Gruppen aufzuhetzen. Jüngst zeigte z.B. die Corona-Krise, wie leicht aus Ängsten autoritäre Ressentiments entstehen, was vor allem linksorientierte und akademisch Gebildete auf erschreckende Art und Weise zeigten.19 Nochmals: Mit diesen Hinweisen zum Hintergrund sollen Ressentiments gleich welcher Art und Provenienz keineswegs legitimiert werden.

Häufige Ressentiments gegenüber Fremden und Interpretationsspielräume

Feindselige, abwertende Einstellungen gegenüber eingewanderten, als fremd wahrgenommenen Menschen sind in Deutschland weit verbreitet, vor allem gegenüber Menschen mit muslimischem Glauben, die in besonderem Maße als Bedrohung der vorherrschenden, tradierten Kultur wahrgenommen werden. So bejahten 32,8% der Antwortenden im Westen und sogar 43,2% im Osten voll oder überwiegend die Aussage: „Die Zuwanderung von Muslimen sollte untersagt werden“. Damit werden Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert und es wird ihnen z.B. das Grundrecht auf Asyl abgesprochen. Ähnlich oft und offen werden Sinti und Roma abgewertet: So bejahten 40% (in Ost wie West), dass diese „aus den Innenstädten entfernt werden“ sollten (S. 67), womit diesen ebenso pauschal grundlegende Rechte abgesprochen werden. Zwar mag es u.a. die oben skizzierten Ursachen geben, jedoch kann dieses solche Ressentiments keineswegs legitimieren. Ähnlich häufig werden weitere feindselige Aussagen in Bezug auf Ausländer bejaht, auch wenn hier über die Aussagekraft zum Teil diskutiert werden kann. So wird z.B. die Aussage, „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“, von 33,8% völlig oder überwiegend bejaht (S. 42). Viele sehen solche Aussagen vermutlich aufgrund der Sorge der Erhaltung des Vorrangs der einheimischen Kultur als legitim an, angesichts einer sehr großen Zahl zuwandernder Menschen aus fremden Kulturkreisen. In einer früheren Befragung bejahte vielleicht deshalb die Mehrheit, dass man in Deutschland nichts Schlechtes über Ausländer sagen könne, ohne als Rassist beschimpft zu werden.20 Auch mit dem zweiten Item zur Ausländerfeindlichkeit würden vermutlich viele eher legitime Vorrechte von Einheimischen verbinden: „Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“, was 24,8% bejahten (26,7% sind ambivalent) (S. 42). Die Bewertung hängt u.a. davon ab, ob nur ein befristetes Aufenthaltsrecht vorliegt, was eine Zurückweisung eher legitim erscheinen lässt, sofern unterschiedlicher Rechte von In- und Ausländern aufrecht erhalten werden sollen. Auch das dritte ‚Item‘ zur Ausländerfeindlichkeit ist weniger eindeutig als es scheint: „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“. Dem stimmte jüngst etwa ein Drittel zu (S. 42). Die Aussage wird aber erst durch den Zusatz „nur“ ausländerfeindlich, weil allen Einwandernden vorrangige ökonomische Motive unterstellt werden. Tatsächlich sind diese Motive aber mit im Spiel, so dass unklar bleibt, wie die Antwortenden die Aussage verstanden haben und mit dem Widerspruch umgegangen sind. Zusammenfassend sind fremdenfeindliche Ressentiments zwar weit verbreitet, diese bergen aber einen Interpretationsspielraum in der schwierigen Abgrenzung zu moderaten national-konservativen Einstellungen. Zudem ist zu beachten, dass trotz verbreiteter Ressentiments gegen bestimmte Gruppen offen autokratische Haltungen selten bleiben, auch wenn es einen fließenden Übergang und eine schleichende Radikalisierung national-konservativer Haltungen gibt.

„Verwahrloste Demokratie“ oder: „Regierung des Volkes, durch Eliten, für die Reichen“

Decker u.a. übersehen auch, dass die ‚Verwahrlosung‘ der Demokratie nicht nur oder in erster Linie vom Volk ausgeht, sondern zunächst von technokratisch-autoritären Eliten. Es ist schon länger eine krasse mangelhafte Repräsentativität und ‚Responsivität‘ oder eine Regierung des Volkes, durch Eliten, für die Reichen“ zu beklagen.21 So peitschen Mitte-Rechts- wie Mitte-Links-Regierungen ähnliche ‚Reformen‘ technokratisch-autoritär als „alternativlos“ gegen die Mehrheit unterer Klassen durch, während die soziale Ungleichheit ständig wuchs.22 Dazu kommt die ständige Verlagerung politischer Entscheidungen und Macht auf supranationale, technokratische Gebilde wie die Europäische Union, samt einem wachsenden Heer ‚internationaler Organisationen‘, wie z.B. der ‚Weltgesundheitsorganisation‘ (WHO), dem sog. ‚Weltklimarat‘ usw., unterstützt durch akademische Eliten und Medien. Alle etablierten Parteien befürworten nämlich bisher einen ähnlichen links-liberalen Kurs der Internationalisierung‘ und ‚De-Nationalisierung‘ (auch die nach links gerückten CDU/CSU und FDP), mit der Transformation der tradierten gesellschaftlichen Ordnung, Befeuerung der Lohnkonkurrenz, Masseneinwanderung und wachsender Regulierung oder Gängelung in immer mehr Lebensbereichen (bis zur Sprache). Deshalb ist mehr als verständlich, dass sich in der Leipziger Studie ca. 70% der Antwortenden politisch praktisch ohne Einfluss sehen (S. 74) und nur noch 42% der Antwortenden mit dem Funktionieren der ‚real existierenden‘ Demokratie zufrieden sind (in Ostdeutschland sind es nur knapp 30%) (S. 74).

Die ignorierte Lösung: Mehr direkte und dezentrale Demokratie

Die These der Leipziger Studie, dass autoritäre Elemente „salonfähig“ seien (S. 188), basiert somit auf willkürlichen Zuspitzungen und Verkennungen. Wie gesagt, die Idee der Demokratie wird in Deutschland bis heute fast einhellig bejaht (von ca. 90%) (S. 72) und die große Mehrheit lehnt autoritäre Formen ab (s.o. u. S. 36). Zudem ist es eine zwangsläufige Folge und an sich ein Zeichen einer funktionierenden Demokratie, dass die skizzierte Repräsentationslücke rechts der Mitte durch neue Parteien wie die AfD gefüllt wurde.23 Dazu wird ignoriert oder verkannt, dass die politisch Verdrossenen, ebenso wie die meist reflexartig als ‚rechtspopulistisch‘ oder ‚rechtsextrem‘ diffamierte AfD, in erster Linie mehr, v.a. direkte und dezentrale, demokratische Teilhaberechte fordern, nach dem Vorbild der besser funktionierenden Schweizer Demokratie. Dass dieses bekannte ‚Heil- und Stärkungsmittel‘ der Demokratie in der Leipziger Studie kaum beachtet wird, ist bezeichnend. Dem liegt offenbar die gängige pauschale Verurteilung des sog. ‚Rechtspopulismus‘ zugrunde, was selbst hochmütige, autoritäre Züge birgt. Damit wertet nämlich eine vermeintlich wissende akademische Elite das Volk (‚populus‘) pauschal ab und rückt es in die Nähe des Pöbels oder Mobs. Letzterer kommt zwar im Rahmen der weit verbreiteten Ressentiments und politischen Verdrusses durchaus vor, es sollte aber auch nicht jegliche national-konservative Haltung und insbesondere die Sorge vor Einwanderung und ‚Überfremdung‘ als rechts-autoritär diffamiert werden. Dass im Übrigen die unteren Klassen in ihrem politischen Frust nicht nach links, sondern nach rechts tendieren, liegt auch an der akademischen Linken selbst, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.24 Es braucht somit nicht zuletzt eine erneuerte Linke, die dem ‚populus‘ und seinen Interessen weniger hochmütig, moralisierend und autoritär begegnet und selbstkritisch eigene autoritäre Anwandlungen samt ‚intellektuellem Rassismus‘ in den Blick nimmt.

  1. Decker, Oliver, Johannes Kiess, Ayline Heller, und Elmar Brähler, hrsg. 2024. Vereint im Ressentiment: Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen (Leipziger Autoritarismus Studie). Gießen: Psychosozial-Verlag.[]
  2. Vgl. Schmidt, Manfred G. 2019. Demokratietheorien: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer-Verlag, VS.[]
  3. Vgl. Beierlein, Constanze, Frank Asbrock, Mathias Kauff, und Peter Schmidt. 2014. „Die Kurzskala Autoritarismus (KSA-3)“. https://www.gesis.org/fileadmin/kurzskalen/working_papers/KSA3_WorkingPapers_2014-35.pdf (5. Dezember 2023).[]
  4. Beierlein u.a. a.a.O., Fußnote 3, S. 5.[]
  5. Vgl. Conway III, Lucian Gideon, Alivia Zubrod, Linus Chan, James D. McFarland, und Evert Van de Vliert. 2023. „Is the myth of left-wing authoritarianism itself a myth?“ Frontiers in Psychology 13: 1041391. doi:10.3389/fpsyg.2022.1041391.[]
  6. Costello, Thomas, Shauna Bowes, Sean Stevens, Irwin Waldman, und Scott Lilienfeld. 2020. „Clarifying the Structure and Nature of Left-Wing Authoritarianism“. Journal of personality and social psychology 122(1): (preprint). doi:https://doi.org/10.1037/pspp0000341; Costello, Thomas H. 2023. „The Conundrum of Measuring Authoritarianism: A Case Study in Political Bias“. In Ideological and Political Bias in Psychology: Nature, Scope, and Solutions, hrsg. Craig L. Frisby, Richard E. Redding, William T. O’Donohue, und Scott O. Lilienfeld. Cham: Springer International Publishing, 585–601. doi:10.1007/978-3-031-29148-7_22; Costello, Thomas H., und Christopher J. Patrick. 2023. „Development and Initial Validation of Two Brief Measures of Left-Wing Authoritarianism: A Machine Learning Approach“. Journal of Personality Assessment 105(2): 187–202. doi:10.1080/00223891.2022.2081809.[]
  7. Zum historischen Hintergrund des christlich motivierte Rassismus und Antisemitismus: Sommer, Antje (1984): Rasse. In: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe Bd.5. Stuttgart: Klett-Cotta; Deschner, Karlheinz. 1965. Mit Gott und den Faschisten. Der Vatikan im Bunde mit Mussolini, Franco, Hitler und Pavelic. Stuttgart: Günther; Deschner, Karlheinz. 1968. Abermals krähte der Hahn. Eine Demaskierung des Christentums von den Evangelisten bis zu den Faschisten. Stuttgart: Günther.[]
  8. vgl. Hopf, Wilhelm, hrsg. 2019. Die Freiheit der Wissenschaft und ihre ‘Feinde’. Münster: LIT Verlag Münster. https://lit-verlag.de/isbn/978-3-643-13939-9/ (2. November 2024); Revers, Matthias, und Richard Traunmüller. 2020. „Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case“. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 72(3): 471–97. doi:10.1007/s11577-020-00713-z; Traunmüller, Richard, und Matthias Revers. 2021. „Meinungsfreiheit an der Universität“. KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 73(1): 137–46. doi:10.1007/s11577-021-00758-8; Traunmüller, Richard. 2023. „Testing the ‚Campus Cancel Culture‘ Hypothesis“. doi:10.2139/ssrn.4392840.[]
  9. Roth, Günter. 2023. „Krisenpolitik und Autoritarismus des ‚Guten und Wahren‘“, https://einfachkompliziert.de/krisenpolitik-und-autoritarismus-des-guten-und-wahren/ (6. Januar 2024).[]
  10. vgl. Shir-Raz, Yaffa, Ety Elisha, Brian Martin, Natti Ronel, und Josh Guetzkow. 2023. „Censorship and Suppression of Covid-19 Heterodoxy: Tactics and Counter-Tactics“. Minerva 61: 407–33. doi:10.1007/s11024-022-09479-4; zur Entlassung von Professorinnen und Professoren im deutschsprachigen Raum: Egner, Heike, und Anke Uhlenwinkel. 2024. Wer stört, muss weg! Neu-Isenburg: Westend Verlag GmbH; Meyen, Michael. 2023. Wie ich meine Uni verlor: Dreißig Jahre Bildungskrieg. Bilanz eines Ostdeutschen. Berlin: edition ost; Frey, K, und ST Stevens. 2023. „Scholars Under Fire – Attempts to Sanction Scholars from 2000 to 2022“. Foundation for Individual Rights and Expression. https://www.thefire.org/sites/default/files/2023/04/Scholars%20Under%20Fire%20-%20Attempts%20to%20Sanction%20Scholars%20from%202000%20to%202022.pdf (23. April 2023).[]
  11. Vgl. Klöckner, Marcus, und Jens Wernicke. 2022. Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen: Das Corona-Unrecht und seine Täter. 1. Auflage, ungekürzte Ausgabe. München: RBmedia Verlag; Müller-Ullrich, Burkhard. 2023. Ich habe mitgemacht: Das Archiv des Corona-Unrechts. Steckborn (CH): Kontrafunk Edition.[]
  12. Dazu: Hofbauer, Hannes. 2022. Zensur: Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung. Wien: Promedia Verlag.[]
  13. Martens, René: „Finstere Zeiten tragen die Signatur der Entwirklichung“ (Kolumne Altpapier), Mittel-deutscher Rundfunk (12. Juli 2024), https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-3742.html (Zugriff: 22. Nov. 2024).[]
  14. Peng, Yilang. 2022. „Politics of COVID-19 Vaccine Mandates: Left/Right-Wing Authoritarianism, Social Dominance Orientation, and Libertarianism“. Personality and Individual Differences 194: 111661. doi:10.1016/j.paid.2022.111661.[]
  15. Vgl. z.B. schon früh: Sönnichsen, Andreas. 2020. „COVID-19: Wo ist die Evidenz?“ EbM-Netzwerk. https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19 (20. Dezember 2020) oder: Bendavid, Eran, Christopher Oh, Jay Bhattacharya, und John P. A. Ioannidis. 2021. „Assessing Mandatory Stay-at-Home and Business Closure Effects on the Spread of COVID-19“. European Journal of Clinical Investigation. doi:https://doi.org/10.1111/eci.13484; Chin, V, J P Ioannidis, M A Tanner, und S Cripps. 2021. „Effect estimates of COVID-19 non-pharmaceutical interventions are non-robust and highly model-dependent“. 136. doi:10.1016/j.jclinepi.2021.03.014; Bendavid, Eran, und Chirag J. Patel. 2024. „Epidemic outcomes following government responses to COVID-19: Insights from nearly 100,000 models“. Science Advances 10(23): eadn0671. doi:10.1126/sciadv.adn0671.[]
  16. vgl.: Grande, Edgar, Swen Hutter, Sophia Hunger, und Eylem Kanol. 2021. Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland. WZB Discussion Paper. Working Paper. https://www.econstor.eu/handle/10419/234470 (27. November 2021) und meine kritische Analyse dazu: https://einfachkompliziert.de/medien-und-die-erosion-der-demokratie/; vgl. auch: Koos, Sebastian. 2021. „Die ‚Querdenker‘. Wer nimmt an Corona-Protesten teil und warum? Ergebnisse einer Befragung während der ‚Corona-Proteste‘ am 4.10.2020 in Konstanz“, Universität Konstanz: Working Paper, Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“, Koos, Sebastian. 2021. „Die ‚Querdenker‘. Wer nimmt an Corona-Protesten teil und warum? Ergebnisse einer Befragung während der ‚Corona-Proteste‘ am 4.10.2020 in Konstanz“; https://www.researchgate.net/publication/348591651_Die_Querdenker_Wer_nimmt_an_Corona-Protesten_teil_und_warum_Ergebnisse_einer_Befragung_wahrend_der_Corona-Proteste_am_4102020_in_Konstanz; Nachtwey, Oliver, Nadine Frei, und Robert Schäfer. 2020. Politische Soziologie der Corona-Proteste. Basel: Universität Basel. Working Paper. doi:10.31235/osf.io/zyp3f; zur medialen Diffamierung der Proteste: Waldhaus, Christoph. 2021. „Von Covidioten, Corona Leugnern und anderen rechten Verschwörungstheoretikern. Eine Analyse medialer Frames“. Synergies Pays Germanophones (14): 45–60.[]
  17. Costello, Thomas H., und Christopher J. Patrick. 2023. „Development and Initial Validation of Two Brief Measures of Left-Wing Authoritarianism: A Machine Learning Approach“. Journal of Personality Assessment 105(2): 187–202. doi:10.1080/00223891.2022.2081809.[]
  18. Eine entsprechende einseitige Interpretation zeigt sich auch bei den Antworten zur Kurzskala Autoritarismus (als „Sadomasochismus“ geführt), weshalb diese hier nicht interpretiert werden sollen (S. 81).[]
  19. Vgl. z.B. Amat, F, A Arenas, und A Falcó. 2020. „Pandemics meet democracy. Experimental evidence from the COVID-19 crisis in Spain“. https://osf.io/dkusw/download; Schippers, Michaéla, John P. A. Ioannidis, und Ari Joffe. 2022. Aggressive Measures, Rising Inequalities and Mass Formation During the COVID-19 Crisis: An Overview and Proposed Way Forward. Rochester, NY: Social Science Research Network. SSRN Scholarly Paper. https://papers.ssrn.com/abstract=4118910 (21. Juli 2022); Peng, Yilang. 2022. „Politics of COVID-19 Vaccine Mandates: Left/Right-Wing Authoritarianism, Social Dominance Orientation, and Libertarianism“. Personality and Individual Differences 194: 111661. doi:10.1016/j.paid.2022.111661.[]
  20. Vgl. Zick, Andreas, Beate Küpper, und Wilhelm Berghan. 2019. Verlorene Mitte — Feindselige Zustände: Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018. Bonn: Dietz, JHW Nachf., 164 f.).[]
  21. Elsässer, Lea, Svenja Hense, und Armin Schäfer. 2018. „Government of the People, by the Elite, for the Rich: Unequal Responsiveness in an Unlikely Case“. MPIfG Working Paper 18(5). https://www.econstor.eu/handle/10419/180215 (18. Dezember 2020).[]
  22. Piketty, Thomas. 2019. Kapital und Ideologie (aus dem Französischen von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer). München: CH Beck.[]
  23. Ausführlich: Roth, Günter. 2024. „Gefährliche Alternative:  Wer oder was gefährdet die Demokratie?“ Kritische Gesellschaftsforschung Nr. 3 (3). doi:https://cdoi.org/1.1/064/000062.[]
  24. Vgl. Roth, Günter. 2020. „›Gewöhnlicher‹ Rassismus, ›intellektueller‹ Rassismus und ›Rechtspopulismus‹“. In Reflect Racism: Anmerkungen für eine rassismuskritische Praxis, hrsg. Tuan Tran und Hubert Steiner. Münster: Unrast Verlag, 115–51; Roth, Günter. 2023. „Krisenpolitik und Autoritarismus des ‚Guten und Wahren‘“. Einfach kompliziert:  Sozial – Politik – Ökonomie. https://einfachkompliziert.de/krisenpolitik-und-autoritarismus-des-guten-und-wahren/ (6. Januar 2024).[]

2 Gedanken zu „Zur einäugigen, verzerrten Sicht der Leipziger Autoritarismus-Studie“

    1. Lieber Herr Hörmann,
      danke sehr und gerne weiterleiten! Es tut gut, nicht nur die nüchterne Statistik der Klicks zu sehen, wohl wissend, dass wir den Mainstream weder erreichen noch ändern können…
      G. Roth

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